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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste
Autoren: Wolfgang Stelljes
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Die Weite, der Wind, das Watt
Annäherung an ein Sehnsuchtsziel
    Sie wollen also an die Nordseeküste? Das ist grundsätzlich schon mal eine gute Idee. Haben Sie sich denn schon entschieden, wohin genau? Festland oder Insel? Ostfriesland oder die Gegend rund um den Jadebusen? Weite Natur oder doch lieber die Nähe einer Stadt? Bremerhaven zum Beispiel: Es ist noch nicht allzu lange her, da sagten viele Leute einfach nur Fishtown , und oft klang es ein wenig abschätzig. Das sagt heute kaum noch jemand, höchstens mal fernab der Küste, weil man da noch nicht mitbekommen hat, wie sehr die Stadt sich gemausert hat. Wo sonst an der Waterkant gibt es auf so kleinem Raum so viele Schietwetter -Angebote? Klassiker wie das Deutsche Schifffahrtsmuseum, aber auch neue Publikumsmagnete wie das Klimahaus oder das Deutsche Auswandererhaus – alles in einem Umkreis von nur wenigen Hundert Metern. Bremerhaven, das ist große weite Welt, immer schon gewesen.
    Schön und gut, sagen Sie, aber Ihnen steht der Sinn mehr nach Natur. Nach Ostfriesland. Und das mit dem Schietwetter ist ja auch so eine Sache, jedenfalls relativ. Stimmt. Nehmen wir einmal an, Sie kommen mit dem Zug von Hamburg oder Hannover. Dann sollten Sie sich nicht wundern, wenn kurze Zeit nachdem der Zug in Bremen über die Weser gerumpelt ist, plötzlich der Himmel aufreißt. Auch dann nicht, wenn die Meteorologen morgens noch von zunehmender Niederschlagsneigung und hoher Regenwahrscheinlichkeit gesprochen haben. Denn die Weser ist eine Wettergrenze. Und sollte es wider Erwarten auch dahinter noch regnen, trösten Sie sich: Je näher Sie der Küste kommen, desto blauer wird vermutlich der Himmel. Es gab schon Leute, die bedauert haben, dass sie über Pfingsten nach Mallorca und nicht an die Nordsee gefahren sind …
    Knapp dreißig Minuten später: Oldenburg. Viel langweiliger kann der erste Eindruck einer Großstadt nicht sein. Ein bisschen Industrie, ein paar mehr oder weniger aufgeräumte Gärten, ein nüchterner Bankenbau. Dass dieses Oldenburg eine Stadt ist, an der so ziemlich jeder Krieg spurlos vorbeigegangen ist, mit Klassizismus hier und Jugendstil da, mit ganz vielen frei stehenden Einfamilienhäusern, in denen Umfragen zufolge glückliche oder doch wenigstens halbwegs zufriedene Menschen leben – all das erfährt nur, wer einen Zwischenstopp einlegt. Besucher aus richtigen Großstädten merken: Auch Busfahrer können wirklich nett sein. Der Oldenburger sagt: Hier weht ein anderer Wind. Man kann es in dieser Stadt, in deren Nähe ich lebe, durchaus ein paar Tage aushalten. Aber Sie wollen ja an die Küste.
    Das Ammerland zieht vorbei. Sattes Grün. Mit bunten Tupfern im Frühjahr, wenn der Rhododendron blüht. Eine »Parklandschaft« mit Hunderten von Baumschulen. Kunstvoll zurechtgestutzte Natur für Deutschland und die Welt. Ob Kreml oder Champs-Élysées – überall Gewächse aus dem Ammerland, oft in Reih und Glied. Auch das könnte man sich alles mal aus der Nähe angucken und in Bad Zwischenahn aussteigen, aber wie gesagt …
    Die nächsten Stationen: Ocholt und Leer. Irgendwo dazwischen verläuft eine unsichtbare Grenze: zwischen Oldenburg und Ostfriesland. Hier also ist der Witz zu Hause. Über die Ostfriesen. Mal sind sie ertrunken, weil sie ihr Hausboot unterkellern wollten, mal verkaufen sie Land an die Österreicher – bei Ebbe. Borwin Bandelow, heute Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, war Ende der sechziger Jahre Primaner am Gymnasium im nahen Westerstede. In einer Schülerzeitung veröffentlichte er die Serie »Aus Forschung und Lehre« und verhohnepipelte darin mit Vorliebe den »Homo ostfrisiensis«. Der Ostfriesenwitz war geboren, zog immer weitere Kreise und beschäftigte selbst ernst zu nehmende Humorforscher. Die stellten fest: Ostfriesenwitze sind eher harmlos, weder rassistisch noch sexistisch, höchstens ein kleines bisschen fies. Und oft so flach wie das Land. Doch als die Witzwelle abebbte, waren sogar die Ostfriesen betrübt: Schließlich hatten nun auch die Leute im »Ausland« , wie sie hier den Rest der Republik zu nennen pflegen, gelernt, wo genau dieses Ostfriesland liegt.
    Und hatte nicht der eine oder andere Kalauer auch einen Kern Wahrheit? Sind die Ostfriesen nicht wirklich ein eigenwilliges Völkchen? Auf jeden Fall gibt es sie immer noch: die Originale am Wegesrand, er mit blauer Joppe, Breitcordhose und Schiffermütze, sie mit Schürze und Kartoffelschälmesser in der Hand, das Haar zu einem Dutt
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