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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste
Autoren: Wolfgang Stelljes
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geformt. Wohl jeder, der in diesem Landstrich groß geworden ist, hat jetzt einen Menschen vor Augen. Eine Seele von Mensch, ein wenig wortkarg vielleicht und ausgestattet mit einer gesunden Skepsis gegenüber allem, was aus der Stadt kommt oder »von oben«. Wobei Ostfriese natürlich nicht gleich Ostfriese ist. Zwischen denen im Harlingerland und denen im Rheiderland liegen Welten. Sagen die, die hier leben. Eines aber verbindet sie: Plattdeutsch, lange Zeit als bildungshemmend geschmäht, erlebt eine Renaissance und steht unter dem besonderen Schutz der Europäischen Charta. Platt ist Alltagskultur und Lebensgefühl, identitätsstiftend in den Zeiten der Globalisierung. Und der Schlüssel zu den Menschen, vor allem den älteren.
    Emden. Marienhafe. Die Stadt Norden. Dazwischen Dörfer, manchmal nur für ein paar Sekunden des Vorbeigleitens. Dörfer, die ein wenig verschlossen wirken, vor allem im Winter. Wenn das kleidsame Grün der Büsche und Bäume verschwindet und der Blick frei wird auf Misthaufen und Reifenstapel, zeigt sich nüchterne Zweckmäßigkeit, manchmal sogar Tristesse. Ganz anders dagegen das Sommergesicht: Dann grünen die Dörfer durch, dann spannt sich über diese Landschaft von irritierender Weite ein Himmel, wie ihn Heiner Altmeppen gemalt hat, blau mit weißen Wattewölkchen – Henri Nannen erwarb 1984 ein solches Panoramagemälde für die Kunsthalle in Emden. Das ist das Ostfriesland, das Sehnsüchte weckt: nach Ruhe, Überschaubarkeit, Entschleunigung. Was viele nicht sehen, vielleicht auch nicht sehen wollen: Es ist eine Region im Wandel. Die Küste und ihr Hinterland sind auch reich an Konflikten: Windenergie, Emsvertiefung, Kohlekraftwerke und Jade-Weser-Port sind nur einige Stich- und Reizworte.
    Norddeich. Endlich. Die Nordsee. Mal bewegungslos still, mal schäumend und rauschend, viel kräftiger als die Ostsee. Das Wasser kommt und geht, der ewige Rhythmus der Natur. Das Wattenmeer, ein einzigartiger Naturraum. Weltnaturerbe. Leihen Sie sich ein Fahrrad! Radeln Sie am Deich entlang, ab Norddeich gen Westen, immer stur geradeaus, rechts das Watt, links die Wiesen. Acht Gatter, vier Schafherden und eine gute Stunde später landen Sie in Greetsiel. Die Anfahrt gehört zu den schönsten Eindrücken, die Ostfriesland bereithält, vor allem morgens, wenn die Sonne noch in Ihrem Rücken steht: der kleine Hafen, die Masten der Jachten, die Kutter mit ihren Netzen, die Giebel der Häuser … Wenn Sie sich dann noch zu einer Zeit, in der der Ort nicht überlaufen ist, also an einem Vormittag in der Vorsaison, in eines der Cafés am Hafen setzen und ein Kännchen Tee ordern, im Ohr nur das Gurren der Tauben und die rheinländischen Gesprächsfetzen vom Nebentisch – dann sind vermutlich auch Sie diesem Ostfriesland schon nach kurzer Zeit hoffnungslos verfallen.

Das kleine Teetrinker-Einmaleins
Was man beim Genuss des ostfriesischen Nationalgetränks so alles falsch machen kann
    Draußen toben die ersten Herbststürme über die Insel, der Regen prasselt ans Fenster. Egal. Wir sitzen auf einem gut gepolsterten alten Sofa im Borkumer Teestübchen und warten auf unsere »Ostfriesische Mischung«, das Kännchen für drei Euro siebzig. Das Stövchen ist schon da, das Teelicht brennt, und nun bringt die Servierkraft im blau-weiß gestreiften Fischerhemd auch schon das Kännchen. »Drei Minuten ziehen lassen«, sagt sie. Und: »Wenn Sie einschenken, müssen Sie den Deckel abnehmen.« Sonst kommt nichts raus aus der Kanne, so viel wissen wir schon, und dafür gibt es Gründe, physikalische. Man ahnt ja gar nicht, was man beim Teetrinken alles falsch machen kann, und hätten wir nicht Tage zuvor ein Tee-Seminar besucht, wir würden den Tee am Ende vielleicht sogar noch umrühren – und wären hier dann so was von unten durch. Jetzt aber können wir zeigen, was wir gelernt haben. Drei Minuten lehnen wir uns zurück und mustern das Kännchen mit seinem typisch ostfriesischen Rosendekor, dann beginnt die Zeremonie. Wir geben ein Stück Kandiszucker in die dünnwandige kleine Tasse, schenken ein und horchen – jawohl, es knistert, das Kluntje zerspringt. Jetzt nehmen wir den Löffel mit der kleinen Nase und lassen etwas Sahne am Rand der Tasse in den Tee laufen – und siehe da, sie bildet sich tatsächlich, die berühmte Wulkje . Wer jetzt rührt, beraubt sich einer sinnlichen Erfahrung. Denn zuerst soll ja die milde, kühle Sahne den Gaumen streicheln, dann erst der heiße, bittere Tee und zu guter
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