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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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unbedingt etwas trinken. Weil ich dir erzählen will, wer Tamás Ulpius war und wie er gestorben ist.«

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    Ich muß dir diese alten Geschichten erzählen, denn sie sind sehr wichtig. Die wichtigen Dinge sind meistens die vergangenen.
     Und solange du sie nicht kennst, bleibst du, verzeih, bis zu einem gewissen Grad immer eine Außenseiterin in meinem Leben.
    Zu meiner Gymnasiastenzeit war Spazierengehen meine Lieblingsbeschäftigung. Oder vielmehr das Umherstreunen. Da von einem
     Halbwüchsigen die Rede ist, paßt dieses Wort besser. Ich erkundete systematisch jeden einzelnen Stadtteil von Budapest. Jedes
     Viertel, ja, jede Straße hatte für mich eine eigene Stimmung. Übrigens macht mir das Betrachten von Häusern noch immer Spaß,
     so wie damals. Darin bin ich nicht älter geworden. Häuser sagen mir sehr viel. Für mich sind sie das, was früher für die Dichter
     die Natur war, oder zumindest das, was sie Natur nannten.
    Am liebsten war mir aber doch die Burg von Buda. Ihre alten Straßen verloren für mich nie den Reiz. Schon damals zogen mich
     die alten Dinge mehr an als die neuen. Für mich hatte nur das eine tiefere Realität, was viele Menschenleben in sich aufgenommen
     hatte, was von der Vergangenheit auf die gleiche Art beständig gemacht worden war wie die Burg Déva von der eingemauerten
     Frau Kőmíves.
    Wie gewählt ich mich ausdrücke, merkst du’s? Vielleicht liegt es an diesem guten Sangiovese.
    Tamás Ulpius sah ich oft auf der Burg, denn er wohnte dort. Schon das war in meinen Augen höchst romantisch, aber auch die
     blonde, fürstliche, fragile Melancholie seines Gesichts gefiel mir, und noch vieles mehr. Er war ausgesucht höflich, trug
     dunkle Kleider und war mit keinem Klassenkameraden befreundet. Auch mit mir nicht.
    Und jetzt muß ich wieder von mir reden. Du hast mich immer |21| als einen muskulösen, breitgebauten, älteren jungen Mann gekannt, der ein glattes, ruhiges Gesicht hat, ein sogenanntes Pokerface,
     und soviel du weißt, bin ich meistens schläfrig. Aber als Gymnasiast war ich noch ganz anders. Ich habe dir Photos aus jener
     Zeit gezeigt, du hast gesehen, wie mager, unruhig und ekstatisch mein Gesicht war. Ich glaube, ich war sehr häßlich – aber
     ich mag mein damaliges Gesicht doch lieber. Und denk dir dazu einen entsprechenden Halbwüchsigenkörper, einen dünnen, eckigen,
     vom raschen Wachsen krummen Jungen. Und dazu einen hageren, hungrigen Charakter.
    Du kannst dir also vorstellen, daß ich nicht gesund war, weder körperlich noch seelisch. Ich war blutarm, und schreckliche
     Depressionen quälten mich. Mit sechzehn, nach einer Lungenentzündung, begann ich Halluzinationen zu haben.Wenn ich las, hatte
     ich oft das Gefühl, jemand stehe hinter mir und blicke in das Buch. Ich mußte mich umdrehen, um mich zu überzeugen, daß keiner
     da war. Oder ich erwachte nachts voller Entsetzen, weil jemand neben meinem Bett stand und mich betrachtete. Natürlich war
     da niemand. Und ich schämte mich fortwährend. Wegen dieser ewigen Verschämtheit wurde meine Situation in der Familie allmählich
     unhaltbar. Während des Mittagessens errötete ich dauernd, und eine Zeitlang genügte der geringste Anlaß, um mich fast zum
     Weinen zu bringen. Ich lief dann aus dem Zimmer. Du weißt ja, was für anständige Leute meine Eltern sind; du kannst dir vorstellen,
     wie perplex und aufgebracht sie waren, und wie meine Brüder und Edit sich über mich lustig machten. Es ging so weit, daß ich
     vorgab, ich müsse um halb drei zu einer Französisch-Nachhilfestunde in die Schule, und so durfte ich vor den anderen allein
     zu Mittag essen.
    Und mit einem zusätzlichen Trick erreichte ich sogar, daß man auch das Abendessen für mich beiseite stellte.
    Zu alldem kam als fürchterlichstes Symptom der Wirbel. Ja, der Wirbel, so wie ich es sage. Von Zeit zu Zeit hatte ich das
     Gefühl, neben mir tue sich die Erde auf, und ich stehe am Rand eines gräßlichen Wirbels. Du mußt aber den Wirbel doch nicht
     ganz wörtlich nehmen, ich sah ihn nicht wirklich, er war keine Vision, |22| ich wußte einfach, daß er da war. Dabei wußte ich auch, daß er nicht da war, daß ich ihn mir bloß einbildete, du weißt ja,
     wie kompliziert solche Dinge sind. Tatsache ist aber, daß ich mich nicht zu rühren wagte, wenn mich das Wirbel-Gefühl überkam,
     und reden konnte ich auch nicht, und ich dachte, alles sei zu Ende. Das Gefühl dauerte übrigens nie lange, und ich hatte nicht
     viele
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