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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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eintauchte, verging das dauernde Schamgefühl, und auch die nervösen Symptome verschwanden.
     Mit dem Wirbel war ich zum letzten Mal konfrontiert gewesen, als mich Tamás herausgezogen hatte. Niemand mehr blickte mir
     über die Schulter, niemand starrte mich nachts aus dem Dunkel an. Ich schlief ruhig, das Leben hatte gebracht, was ich von
     ihm erwartet hatte. Auch körperlich rappelte ich mich zusammen, mein Gesicht glättete sich. Das war die glücklichste Zeit
     meines Lebens, und wenn ein Geruch oder ein Lichteffekt die Erinnerung daran wachruft, schwindelt mir noch heute vor Glück,
     vor dem einzigen Glück, das ich gekannt habe.
    Auch dieses Glück war natürlich nicht gratis. Um bei den Ulpius zu Hause zu sein, mußte ich mich von der Welt der Tatsachen
     losreißen. Entweder, oder: Man konnte nicht zweigleisig leben. Auch ich gewöhnte mir das Zeitunglesen ab und brach mit meinen
     intelligenten Freunden. Mit der Zeit hielt man auch mich für so blöde wie Tamás, und mir war das schrecklich, denn ich war
     eitel und wußte um meine Intelligenz – aber da war nichts zu machen. Von meiner Familie entfremdete ich mich völlig, ich sprach
     mit gemessener Höflichkeit zu ihnen, so wie ich es von Tamás gelernt hatte. Den Bruch, der sich zu jener Zeit zwischen uns
     vollzog, habe ich auch seither nicht beheben können, so sehr ich mich auch bemühte, und ich habe meiner Familie gegenüber
     noch immer ein schlechtes Gewissen. Später habe ich diese Entfremdung mit Gehorsam auszugleichen versucht, aber das ist eine
     andere Geschichte   …
    Meine Familie war aufgewühlt von meiner Verwandlung. Sie hielten bei meinem Onkel einen besorgten Familienrat nach dem andern,
     und sie kamen zum Schluß, daß ich eine Frau haben müsse. Das teilte mir mein Onkel, in größter Verlegenheit und unter |31| Zuhilfenahme zahlreicher symbolischer Wendungen, dann auch mit. Ich hörte ihm mit Interesse zu, zeigte aber keinerlei Neigung,
     um so weniger, als Tamás, Ervin, János Szepetneki und ich da schon geschworen hatten, nie eine Frau zu berühren, denn wir
     würden die neuen Gralsritter sein.Das Thema Frau wurde mit der Zeit ad acta gelegt, und meine Eltern fanden sich damit ab,
     daß ich war, wie ich war. Ich glaube, meine Mutter macht heute noch die Angestellten und die neuen Bekannten sachte darauf
     aufmerksam, daß ich ein bißchen komisch, kein alltäglicher Mensch sei. Obwohl   … seit so vielen Jahren könnte man bei mir nicht einmal mit dem Mikroskop etwas entdecken, das nicht alltäglich ist.
    Ich weiß gar nicht, was meine Eltern an meiner Verwandlung so beunruhigte. Gut, die beiden Ulpius verlangten unbedingte Anpassung,
     und ich gehorchte gern, ja, mit Begeisterung. Ich gewöhnte mir das Lernen ab. Ich revidierte meine Meinungen und begann eine
     Menge Dinge abstoßend zu finden, die mir bis dahin gefallen hatten: das Militär und der Ruhm auf dem Schlachtfeld, meine Klassenkameraden,
     typisch ungarische Gerichte, alles, was in der Schule als ›stramm‹ und ›gelungen‹ bezeichnet wurde. Ich gab das Fußballspiel
     auf, das bis dahin eine Leidenschaft gewesen war; Fechten war der einzige erlaubte Sport, und das übten wir drei mit um so
     größerem Eifer. Ich las ungeheuer viel, um mit Tamás Schritt zu halten, was mir allerdings nicht schwer fiel. Aus dieser Zeit
     stammt mein Interesse für Religionsgeschichte, die ich mir später, als ich seriös wurde, wieder an den Hut stecken mußte,
     wie so vieles andere auch.
    Und doch hatte ich gegenüber den beiden Ulpius ein schlechtes Gewissen. Ich hatte das Gefühl, sie zu hintergehen. Denn was
     für sie eine natürliche Freiheit war, war für mich eine schwere, verkrampfte Rebellion. Ich bin zu bürgerlich, zu sehr dazu
     erzogen, wie du ja weißt. Ich mußte tief einatmen, und es kostete mich große Überwindung, die Zigarettenasche auf den Boden
     zu streuen, während die beiden Ulpius nichts anderes kannten. Wenn ich mich zuweilen heldenhaft dazu durchrang, mit Tamás
     die Schule zu schwänzen, hatte ich den ganzen Tag Magenkrämpfe. Ich bin so eingerichtet, daß ich morgens früh aufwache und
     abends müde |32| bin, daß ich mittags und abends Hunger habe, daß ich gern aus einem Teller esse und nicht gern mit der Beilage beginne, daß
     ich die Ordnung liebe und vor den Polizisten Schiß habe. Diese Eigenschaften, mein ganzes ordnungsliebendes, gewissenhaftes
     bürgerliches Wesen, mußte ich vor den Ulpius verheimlichen. Sie wußten zwar
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