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Reigen des Todes

Reigen des Todes

Titel: Reigen des Todes
Autoren: Gmeiner-Verlag
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begab er sich auch an diesem Tag, dem 26. Februar 1908, um drei viertel elf Uhr zu Fuß zu seiner Verabredung. Wie jeden Mittwoch wollte er sich pünktlich um halb zwölf Uhr mit seinem langjährigen Freund und ehemaligen Kameraden Friedrich Freiherr von Vestenbrugg im Schwarzen Kameel zum Mittagessen treffen. Während Collredi selbst nach einem Jahr Ausbildung das Militär verlassen hatte, blieb Vestenbrugg und machte im Laufe der Jahre leidlich Karriere. Als begüterter Adeliger hätte er eigentlich in einem Kavallerieregiment dienen sollen, doch die Reiterei war dem schon in jungen Jahren sehr beleibten Vestenbrugg nicht geheuer. Er pflegte zu sagen: ›Das grenzt doch an Tierquälerei, wenn so ein armes Pferderl mich durch die Gegend tragen muss.‹ Und so ging er zur Infanterie, zum Wiener Hausregiment der k.u.k Hoch- und Deutschmeistern. Hier war er im Laufe der Jahre zum Oberstleutnant und Kommandanten des 1. Bataillons aufgestiegen. Daran dachte Collredi, als er über die Kärntner Straße hinunter zum Graben ging. Am Stock-im-Eisen-Platz wurde er von einem Zeitungsverkäufer aus seinen Gedanken gerissen.
    »Extra-Ausgabe! Kannibalismus in Wien! Extra-Ausgabe!«
    Der Graf glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Als er jedoch den Aufmacher der Zeitung – ›Wiens Hunger-Kannibalen‹ – sah, blieb er verblüfft stehen. Das konnte doch nicht wahr sein! Was hatte die Journaille da schon wieder zusammengedichtet? Hunger-Kannibalismus in Wien? So ein Unfug! In Wien konnte doch jeder, der sich ehrlich um Arbeit bemühte, eine bekommen. Collredi ärgerte sich und vor lauter Zorn kaufte er die Zeitung. Wütend stolzierte er den Graben entlang, machte einen kleinen Schwenk und war mit wenigen Schritten beim Schwarzen Kameel in der Bognergasse angelangt. In dem eleganten, im modernen sezessionistischen Stil eingerichteten Lokal ließ er sich an seinem Stammplatz direkt bei einem der Fenster nieder. Er liebte es, von hier aus die Passanten zu beobachten. Dies tat er diesmal jedoch nicht, vielmehr las er den Leitartikel über den Hunger-Kannibalismus.
    Scharf treffen in der Großstadt die Kontraste aufeinander, wo sich unmittelbar neben oder unter den Wohnungen der Reichen, der Sorglosen, der Vergnügten die Quartiere des Elends befinden. Unsere von krassem Materialismus beherrschte Zeit produziert nicht nur die edelsten Waren und größten Delikatessen, sondern auch deren implizites Gegenteil: den Mangel, die Armut und den Hunger. Von dieser unheiligen Dreieinigkeit können vor allem die Stiefkinder des Schicksals, die von der Gesellschaft verstoßen wurden oder sich in ohnmächtigem Trotz selbst ausgestoßen haben, ein beklagenswertes Lied singen. Ihrer, die in menschenunwürdigem Elend schmachten und für die unsere Gesellschaft normalerweise nicht einmal ein Achselzucken übrig hat, sei hier gedacht. Sie, die von Hunger gewürgt und von Krankheit verdorben in ihrem eigenen Kot nächtigen. Männer und Weiber in fliegenden Lumpen, gehetzt durch unsere blanken Straßen, deren Reichtum sie besudeln könnten, hinabgedrängt in die Kloaken und auch dort noch verfolgt von unserer Ordentlichkeit. Ihre Liebe ist das Brot. Ihr Ehrgeiz ein Lager für die Nacht, ihr Hass aber die satte Gesellschaft. Eine Gesellschaft der Reichen, der Vergnügten, der Sorglosen, die den nagenden Schmerz des Hungers und die Pein des eisigen Winters nicht kennt oder nicht zu kennen glaubt. Sie, die an übervoll gedeckten Tischen sitzen, werden voll Verachtung auf jene blicken, von denen hier die Rede ist. Obdachlose, die, übermannt vom Hunger, in schierer Verzweiflung über ihresgleichen herfallen …
     
    »Wünschen Herr Graf zu speisen? Oder warten Eure Exzellenz noch auf den Herrn Oberstleutnant?«
    Herr Rudolf, der Oberkellner, riss Collredi aus seiner Lektüre. Er faltete die Zeitung zusammen und fragte, was es denn heute zu essen gäbe. Der Kellner empfahl ihm das Epigramm vom Lamm – ein Gericht, das aus gebratenen Lammkoteletts, einem Stück gebackener Lammbrust sowie einer gespickten und glaciert gebratenen Lammschulter bestand. Collredi stellte mit einem Blick auf seine Taschenuhr fest, dass es bereits sieben Minuten nach halb zwölf war. Er hatte einen Riesenhunger – den der Zeitungsartikel in keiner Weise beeinträchtigen konnte – und deshalb bestellte er das Lammgericht sowie eine Kaisernockerlsuppe als Vorspeise. In Gedanken versunken, sah er auf die Bognergasse hinaus und machte sich Sorgen. Vestenbrugg war normalerweise ein
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