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Reigen des Todes

Reigen des Todes

Titel: Reigen des Todes
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Mensch! Drum hab ich den feinen Herren beim Ärmel packt und ihn angeschrien. Ich bin auch ein Mensch! Ich hab Hunger! Warum werd ich arretiert und eing’sperrt? Nur weil ich Hunger hab? Ich bin auch ein Mensch …«
     
    Joseph Maria Nechyba sah von seiner Zeitungslektüre auf. Obwohl ihn der Artikel ›Kannibalismus in Wien‹ sehr interessierte, legte er das Blatt zur Seite, stand auf und ging hinaus auf den Gang, um nachzusehen, wer hier im Polizeigebäude so einen Lärm machte. Er sah drei Polizeiagenten, die auf eine zerlumpte Gestalt einprügelten. Auf Nechybas Zuruf ließen sie von dem Unglücklichen ab, der sich augenblicklich beruhigte, in eine Ecke kauerte und mit dem Ärmel Blut vom Gesicht wischte.
    Einer der Agenten machte Meldung. »Herr Inspector, das ist einer von den Randalierern, die gerade vor dem Reichsrat demonstrieren. Wir haben ihn arretiert und abgeführt.«
    Als Nechyba die Untergebenen ermahnen wollte, die Amtshandlung möglichst ohne Gewalt zu vollziehen, kam eiligen Schrittes Zentralinspector Ferdinand Gorup von Besanez den Gang entlang und rief: »Nechyba! Schnappen Sie sich so viele Leute, wie’s nur geht und schaun S’, dass Sie schleunigst zum Reichsratsgebäude 3 kommen. Die Demonstranten dort fangen nämlich an, Pflastersteine zu werfen.« Kaum, dass er das gesagt hatte, war er auch schon am Ende des Ganges in einer anderen Abteilung des Sicherheitsbüros verschwunden.
    Nechyba brüllte, dass die Scheiben zitterten: »Alarm! Alle Mann raustreten!«, eilte in sein Büro, schlüpfte in den Mantel, stülpte sich die Melone aufs massige Haupt und war wieder draußen am Gang. Dort hatten sich zehn seiner vierzehn Mann umfassenden Gruppe versammelt. Im Laufschritt eilte er mit ihnen die Treppe hinunter und rief: »Gemma, meine Herren! Vorm Reichsrat gibt’s einen Krawall!«
    Die nicht unbeträchtliche Strecke vom Polizeigebäude an der Elisabethpromenade 4 zum Reichsratsgebäude legten Nechyba und seine Männer im Laufschritt keuchend, schnaufend und hustend zurück. Bereits auf der Höhe des Rathausparks war die Ringstraße von einer dichten Menschenmenge blockiert. Nechyba wies seine Leute an, eine keilförmige Formation zu bilden und ihm zu folgen. Einer Dampfwalze gleich schob sich der Inspector durch die Masse der Gaffer. Dabei kamen ihm sowohl seine beachtliche Größe als auch sein beträchtliches Körpergewicht zugute. Die meisten Schaulustigen wichen dem Stoßtrupp aus, da sie an den einheitlich dunklen Mänteln und schwarzen Melonen k.k. Polizeiagenten erkannten. Als sich die Polizisten zu den Demonstranten, die rote Fahnen und Transparente mit der Aufschrift HUNGER schwangen, vorgearbeitet hatten, zogen sie Totschläger und Schlagringe aus den Taschen. Nechyba benutzte keine Waffen, sondern hieb mit bloßen Fäusten auf die Demonstranten ein. Binnen kürzester Zeit wichen die halbverhungerten, ärmlich gekleideten Menschen vor ihm und seinen Mannen zurück. Einige Pflastersteine flogen, ein Polizeiagent wurde am Kopf getroffen. An der Auffahrtsrampe des Reichsratsgebäudes war berittene Polizei in Stellung gegangen; ein Teil der Demonstranten drängte dorthin. Die Berittenen zogen die Säbel blank und hieben auf die unbewaffneten Elendsgestalten ein. Der Kampf dauerte eine halbe Stunde, dann war die öffentliche Ruhe wiederhergestellt. Auf dem Pflaster der Ringstraße – Wiens Prachtboulevard – lagen Verwundete, um die sich Helfer der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft kümmerten. Die Menge der Gaffer hatte sich aufgelöst, Nechyba stand dampfend und schwer atmend inmitten seiner Männer. Er rieb sich die blutig geschlagene rechte Faust und stierte ins Leere. Es ekelte ihn und am liebsten hätte er sich mitten auf der Ringstraße übergeben. Stattdessen befahl er seinen Leuten, ins Polizeigebäude zurückzukehren; zwei hatten ärgere Blessuren, die sie vom Polizeiarzt behandeln lassen mussten.
     
    Alleine blieb er auf dem Schlachtfeld stehen, beobachtete die Arrestantenwagen, die, vollgestopft mit Demonstranten, in Richtung Polizeigefangenenhaus losfuhren. Die berittene Polizei zog ab und der Stau der Straßenbahnen löste sich allmählich auf. Der Oberkommissär eines benachbarten Kommissariats ging mit seinen Männern vorbei und grüßte Nechyba. Straßenkehrer räumten die herumliegenden Pflastersteine, zerbrochenen Fahnenstangen, zerfetzten Fahnen und Transparente weg. Uniformierte Polizisten gaben den Verkehr auf der Ringstraße wieder frei, Passanten
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