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Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze

Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze

Titel: Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
Autoren: Sue Twin
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sprachlos. Meine Eltern hatten
mich gewarnt. Man sei so fasziniert von diesen riesigen Flügeln, die aus der
Nähe einfach gigantisch sind, dass man die Sekunde der allerletzten
Fluchtmöglichkeit verpasse. Abgesehen von den Krallen an ihren Händen und Füßen,
sehen sie aus wie die Engel auf unseren alten Kirchengemälden – aber sie sind
keine Boten des gekreuzigten Gottes.
    Der Geflügelte oben auf dem Ast über mir ist der
erste Falkgreifer, den ich aus nächster Nähe sehe. Genaugenommen stimmt es
nicht ganz, denn ich habe schon einmal einen von ihnen für einen kurzen Moment
ganz nah zu Gesicht bekommen. Aber da befand ich mich geschützt im Stadtturm
und habe vor Schreck die Augen zugekniffen.
    Eines scheint gewiss: Der Greifer wird das letzte
Wesen sein, das ich vor meinem unausweichlichen Tod zu sehen bekomme, wenn ich
nicht schnell ein Versteck finde. Aber wohin soll ich flüchten?
    Schon lässt er sich kopfüber aus der Eichenkrone fallen
und schießt wie ein Pfeil zu Boden. Luft wirbelt auf, bläst über meine nasse
Kopfhaut. Das scharfe Zischen der Schwungfedern dringt an mein Ohr. Eine
Gänsehaut jagt über meine Arme, bis zum Nacken hinauf, und dann weiter über die
Kopfhaut, die schmerzhaft kribbelt. Um meine Stirn legt sich ein eisiger Ring.
    Geschockt halte ich den Atem an.
    Der Greifer jagt im Sturzflug an mir vorbei – und
hinab zum See. Jetzt erst erkenne ich durch die Zweige, wie nah ich mich bereits
am Wasserfall befinde. Der Bach stürzt sich an den Felsen in die Tiefe. Der
größere Teil der Wassermassen wird jedoch von einem anderen Fluss gespeist, der
unmittelbar vor mir liegt. Im Vergleich zu den Mengen, die dort über die Felsen
hinabdonnern, befinde ich mich hier an einem trägen Rinnsal.
    Auf der Suche nach einem Versteck robbe ich über
die glitschigen Steine bis zur Felskante. Eine winzige Ritze, zwischen die ich
mich quetschen kann, würde mir genügen. Mit rasendem Herzen ziehe ich mich ein
Stück an einem der treppenartig liegenden Felsen hinab. Eigentlich ist es
Wahnsinn, denn ich nähere mich der Bestie, dem
Jäger. Andererseits habe ich oben keine Chance mich zu verstecken.
    Ich lasse los und klatsche auf eine flachgespülte Steinplatte.
Sie liegt tiefer als ich geschätzt habe, und ist mit einer glitschigen Algenschicht
überzogen. Schlitternd rase ich auf den Abgrund zu. Wenn ich jetzt nicht
bremse, rutsche ich in den Wasserfall und stürze in den See, der sich zehn,
vielleicht auch fünfzehn Meter unter mir befindet. Im letzten Moment kralle ich
mich an einem hochkragenden Basaltklotz fest.
    Der Falkgreifer steht mehrere Fuß unter mir auf
einer Felskante, doch er kehrt mir den Rücken zu. Er ist so nahe, dass ich
jeden seiner Muskeln und die kurzgeschorenen weißblonden Haarstoppeln erkennen
kann. Er legt den Kopf in den Nacken und stößt einen schrillen Laut aus. »Schaaha.«
    Erschrocken weiche ich zurück und zwänge mich
zwischen zwei Felsbrocken. Ich atme aus und quetsche mich noch weiter in die
enge Spalte. In diesem Moment begreife ich, dass der Greifer mich nicht im
Visier haben kann. Hätte er es auf mich abgesehen, dann wäre ich längst tot.
Nein, der Warnruf galt einer anderen Gestalt am Rande der steinernen Kaskaden. Ein
gutes Stück unter mir, an einer weiteren Klippe, etwa zwei Meter über dem See, befindet
sich ein kleines Plateau – und dort bewegt sich ein Mensch.
    Ich kenne ihn nicht. Aus unserem Stadtteil ist er
nicht, zumindest nicht aus meinem Viertel. Wollte er, so wie ich, den
Wasserfall betrachten? Er dreht den Kopf und vermutlich sieht er der Greifer-Bestie
direkt in die Augen. Die beiden mustern sich. Ich betrachte erneut das Gesicht
des Fremden, sehe, wie seine Kieferknochen vor Anspannung mahlen. Er hält ein
Messer in der Hand. Die Klinge blitzt im Sonnenlicht.
    Also ein
Kämpfer, ein Krieger. Jemand aus der Garde?
    »Schaschahaa«, kreischt die Himmelsbestie und landet
direkt vor dem Krieger, der nun seinerseits brüllt, bevor er mit einem Sprung
zum Angriff übergeht. Die beiden verkrallen sich ineinander und stürzen auf der
Terrasse zu Boden.
    Das wäre der allerbeste Moment für mich, um zu
fliehen. Schon ärgere ich mich, dass ich mich zwischen die Steine verkrochen
habe, denn ich muss mich daran hochziehen, um diesem gefährlichen Ort zu
entkommen. Mist, so weit hatte ich in
meiner Panik nicht gedacht, als ich hinabgeklettert bin, um mich hier zu
verbergen. Ich wage mich ein Stück heraus aus meinem schützenden Versteck und luge
zu
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