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Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze

Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze

Titel: Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
Autoren: Sue Twin
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das Papier unter meiner Matratze
hervor und falte es auseinander. Feine Linien sind darauf zu erkennen. Immer
und immer wieder bin ich mit dem Finger über die Straßen gewandert und habe
versucht, mir vorzustellen, wie es wohl damals war, als es die Wolfer, die Falkgreifer,
die Mutare und all die anderen noch nicht gab.
    Mittlerweile bin ich so gut wie taub durch das tosende
und dröhnende Wasser. Der Lärm, der die überlebenswichtigen Geräusche
verschleiert, ist einer der Gründe, warum es mir strengstens verboten ist,
hierher zu kommen. Hier, wo ich ihnen schutzlos ausgeliefert bin. Aber bin ich wirklich irgendwo sicher vor ihnen ? Sind unsere Tore und Türen nicht
eine Illusion?
    Sie könnten jederzeit in unsere Städte eindringen und uns holen. Die Falkgreifer
mit ihren riesigen Schwingen überfliegen spielend sämtliche Hindernisse und
wenn sie landen, dann sind sie am Boden ebenso beweglich, kraftvoll und
geschickt wie unsere besten Kämpfer. Die Gestalt der fliegenden Bestien ist
zwar graziler als die unserer trainierten Gills, aber das täuscht. Unter den
sehnigen Armen und Beinen der Vogelartigen stecken extrem ausdauernde Muskeln.
    Würde ein Greifer von oben auf mich herabstürzen,
dann hätte ich keine Chance gegen ihn. Er würde mich vermutlich in seinen Horst
tragen und dort in Stücke reißen. Man erzählt sich fürchterliche Geschichten
über sie. Angeblich essen sie uns sogar roh. Aber das glaube ich nicht.
    An klaren Tagen kann man vom Stadtturm bis zu den Nebelblau-Bergen blicken, dorthin, wo die
fliegenden Wesen in ihren Höhlen leben. An den Felsen steigen graue Rauchschwaden
auf. Natürlich entzünden sie Feuer, so wie wir. Vor allem im Winter, wenn der
Schnee die Felsen bedeckt und die Berge wie ein Meer aus Tausenden von Kristallen
glitzern.
    Wir dürfen unsere Feinde nicht unterschätzen. Sie
sind keine wilden Tiere. Sie sind denkende, mordende Bestien – Gestalten aus
Mensch und Tier. Und sie planen ihre Angriffe wie ein Feldherr, der ein
Geschwader anführt.
    Eine Windböe erfasst die Bäume und reißt mich aus
den Gedanken. Die Schatten der Blätter zappeln plötzlich wie Gespenster.
Irritiert spähe ich von Baum zu Baum. Ahorn und Buchen wechseln sich ab. Goldenes
Sonnenlicht bricht unruhig flackernd durch die Zweige.
    Und dann sehe ich ihn.
    Nur mit einem Lendenschurz bekleidet hockt er auf
einem Ast – wie ein Läufer kurz vor dem Start – die nackten Beine angezogen, die
schneeweißen Flügel gesenkt.
    Vor Schreck rutsche ich auf dem glitschigen Felsbrocken
aus und falle ins Wasser, in eines der ausgewaschenen Becken. Augenblicklich
tauche ich unter. Der Fluss ist so eiskalt wie im Winter der Schnee. Ich bin
wie betäubt vor Kälte und Angst, denn ich kann nicht schwimmen. Ein Teil von
mir sehnt sich danach, unter Wasser zu bleiben, damit mich der Falkgreifer
nicht sehen kann, aber ich bin kein Wasseratmer. Ich spüre, wie die Eiseskälte
mir die Haut am Körper zusammenzieht und meine Finger, die sich an den Felsen festklammern,
taub und steif werden, während ich gleichzeitig das Gefühl habe, vor Panik innerlich
zu verbrennen.
    Ich kann nicht länger unter Wasser bleiben. Es
wäre sowieso ein vergebliches Versteck, denn der Bach ist klar wie Glas. Der Falkgreifer
hat mich mit Sicherheit längst erblickt.
    Für einen Moment hadere ich mit mir. Hätte ich
doch bloß auf Alina gehört. Hoffentlich ist sie in Sicherheit. Ja, gewiss ist
sie das, tröste ich mich. Heiß strömt das Adrenalin durch meine Adern, aber
mein Kopf ist leer.
    Fühlt es sich so an, wenn der Tod einen umarmt?
    Leer und klar?
    Die Zeit scheint stillzustehen, sogar das Wasser
wirkt plötzlich wie gefrorenes Eis auf mich. Ich tauche auf, indem ich mich am
glitschigen Stein hochziehe, und schnappe nach Luft. Die aufspritzenden
Wassertropfen glitzern wie Diamanten. Doch ich habe jetzt keinen Blick für die
Schönheit des Waldes und des Flusses. Ich zittere um mein Leben und vor Kälte.
    Mein Kopf schnellt herum, um dem Tod ins Auge zu blicken.
Schon erahne ich den Schatten über mir, in Erwartung der Klauen, die sich
gleich durch meine Bluse in mein Fleisch graben werden.
    Überrascht erkenne ich, dass der Falkgreifer nicht
in meine Richtung blickt. Stattdessen richtet er sich zu voller Größe auf und
spreizt seine Schwingen.
    Mir klappt der Unterkiefer herunter. Ich sehe sie täglich
am Himmel fliegen. Daher weiß ich, dass jeder Flügel mindestens anderthalb,
vielleicht sogar zwei Meter misst. Und doch bin ich
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