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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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noch bin ich vernünftig«, protestierte Lara und rieb sich die Schläfe. »Ich hatte wohl nur etwas zu viel Sekt heute Nacht.«
    Wieder stahl sich ein vielsagendes Lächeln auf Henry McLanes Gesicht.
    Â»Dann ist dieses Frühstück ja genau das Richtige. Trotzdem gibt’s das hier zuerst!«
    Ein dünnes Päckchen mit Schleife flog über das Tablett in Laras Schoß.
    Sie nahm es hoch, drehte und wendete es, schüttelte es und riss schließlich das Geschenkpapier mit einer geübten Bewegung herunter, um einen MP 3-Player in den Händen zu halten. Fragend sah Lara ihren Großvater an.
    Der zuckte mit den Schultern und wies in die Ecke mit den CD -Ständern, denn dort stapelte sich Laras Leidenschaft: Musik. Von Alanis Morissette bis Led Zeppelin türmten sich dort die Silberscheiben, für deren Bezahlung Lara Stunde um Stunde im Touristenbüro auf der Royal Mile ausgeholfen hatte. Sie wusste nicht, wie viele es waren, aber sie schätzte ihre Zahl auf zwei- bis dreihundert Stück.
    Â»Ich dachte, es ist sicher lästig, immer einen Haufen davon mit dir herumzuschleppen, und im Laden sagte man mir, das sei eine elegante Lösung.«
    Lara dachte kurz nach. Eigentlich hatte es bis jetzt irgendwie zu ihrem persönlichen Stil gehört, immer und überall einen Stapel CD s mitzuschleppen. Es gehörte dazu, genau wie der lange rote Schal, die abgenutzte Jeanstasche und die Mütze, aus der immer akkurat-chaotisch auf der rechten Seite ein paar Strähnen des bernsteinfarbenen Haars hervorlugen mussten, das ansonsten in Korkenzieherlocken von ihrem Kopf herabfiel. Auf der anderen Seite war ein MP 3-Player so verdammt praktisch. Immerhin lief ihr in die Jahre gekommener tragbarer CD -Player nur noch mit diversen Tricks. Man musste ihn zum Beispiel auf den Kopf stellen.
    Â»Ich kann dir nicht um den Hals fallen«, meinte sie schließlich übertrieben theatralisch. »Das Frühstück trennt uns. Aber wie soll ich denn überhaupt meine CD s da draufbekommen?«
    Henry McLane zuckte wieder bloß mit den Schultern.
    Â»Mit dem Computer geht’s«, meinte er und deutete in Richtung Tür und Holztreppe, unter der er einen Schreibtisch eingebaut hatte, auf dem tatsächlich ein Computer stand. In manchen Dingen, hatte Lara den Eindruck, war ihr eigener Großvater trotz seines Alters erheblich fitter als manch weitaus jüngerer Vater ihrer Schulkameraden.
    Â»Probier’s doch mal aus!«, forderte er ungeduldig. Ein wenig fühlte Lara sich an einen kleinen Jungen erinnert, wobei sich der schelmische Humor von Henry McLane von einem solchen wahrscheinlich auch gar nicht so sehr unterschied.
    Lara setzte sich also die Kopfhörer auf und drückte auf On . Ein Orchester dröhnte in ihrem Kopf, mit Bläsern und Streichern und viel Enthusiasmus. Reflexartig riss sie die Hörer herunter und starrte auf das Display. Beethovens 9. Symphonie stand dort. Sie sah ihren Großvater an, der wieder nur unschuldig mit den Schultern zuckte.
    Â»Du hast doch nicht gedacht, ich geh an deine Schätze, oder? Also musste ich es mit einer eigenen CD ausprobieren.«
    Beide mussten lachen. Lachen, dass der Kakao gefährlich nahe an den Rand seiner Tasse schwappte.
    Als sie sich beruhigt hatten, warf Henry McLane seiner Enkelin ein weiteres Päckchen von ähnlicher Größe zu.
    Â»Das«, sagte er in verschwörerischem Ton, »ist ein Test. Sieh, ob du etwas damit anfangen kannst.«
    Der Tonfall irritierte Lara, denn entgegen seiner sonst so humorvollen Art, schimmerte diesmal etwas hindurch, das nicht so ganz zu dem gut gelaunten alten Mann zu passen schien. Aber Lara hätte nicht sagen können, was es war. Vielleicht täuschte sie sich auch.
    Doch auch in ihren chaotischsten Träumen hätte Lara nicht zu vermuten gewagt, was sich hinter dem harmlosen Päckchen mit der roten Schleife verbarg. Nicht geahnt, nicht gewusst, nicht ausgemalt, dass in diesem Päckchen der Wendepunkt ihres jungen Lebens lag. Eines Lebens, das glücklich gewesen war. Glücklich auf eine Weise, die Lara oft mit einem Herbstregen im Oktober verglich: Wenn man das Falsche anzog, wurde man nass, aber wenn man hinein ins Trockene kam, war es warm und gemütlich.
    Lara war eine Waise. Schon seit jeher. Ein unglückliches Schicksal hatte das damals noch winzige Mädchen und den freundlichen und gewitzten älteren Herrn
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