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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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nie einen Schlüssel geschenkt.
    Stattdessen machte sie bloß: Ȁh.«
    Â»Du hast mir davon erzählt, wie man euch in der Schule darauf vorbereiten will, später einen Beruf zu wählen«, meinte Henry. »Betrachte das hier einfach als Möglichkeit.«
    Die Fragen verschwanden nicht aus Laras Augen. Im Gegenteil, sie vermehrten sich nur noch. Aber das war es offenbar, was Henry McLane beabsichtigte.
    Â»Wie gesagt, das ist ein Test«, wiederholte er. »Ob du die Möglichkeit ergreifst oder nicht. Ich für meinen Teil finde, du hast ein Recht darauf. Das mögen andere anders sehen. Sei’s drum, du wirst schon herausfinden, zu was der Schlüssel taugt!«
    Er schlug die Hände auf die Oberschenkel und stand auf.
    Â»Ich muss langsam los. Den größten Teil des Tages habe ich zwar frei bekommen, aber den Vormittag hast du ja bereits verschlafen. Ich bin zu Kaffee und Kuchen wieder da.«
    Er hob bedauernd die Schultern. »Touristen gibt es auch am ersten Januar.«
    Und damit ließ er seine – zu Recht völlig verdutzte – Enkeltochter in ihrem Bett sitzen. Vor ihr ein großes Frühstück, ein dampfender Kakao und jede Menge zerfetztes Geschenkpapier.

    Wie seltsam einem manche Augenblicke doch erscheinen, wenn man noch nicht weiß, ob sie magisch oder lächerlich sein wollen.
    Lara schüttete den Schlüssel aus dem Päckchen in ihre Hand und legte verwundert den Kopf schief, denn der Schlüssel fühlte sich warm an. Es war keine direkte Wärme, die er abstrahlte, es war mehr ein Gefühl, das auf Laras Haut prickelte. Nein, es prickelte nicht, das war nicht ganz das richtige Wort. Komisch, dachte Lara. Vielleicht reagierte das Metall irgendwie mit ihrer Haut?
    Sie schüttelte den Kopf, legte den Schlüssel auf das Nachttischchen und schlürfte den Kakao. Unten hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen.
    Als Erstes galt es also herauszufinden, wofür dieser seltsame Schlüssel gut sein sollte. Irgendetwas musste er ja aufschließen. Eine Tür, einen Schrank, ein Kästchen?
    Definitiv leichter gesagt als getan.
    Der Größe nach zu urteilen, war der Schlüssel eher für eine Tür gedacht. Oder einen Schrank mit einem großen Schloss. Auf keinen Fall konnte ein Schlüssel dieser Größe für eine Schatulle oder eine kleine Kommode gut sein.
    Lara kramte ihren eigenen Schlüsselbund aus der Nachttischschublade und verglich die Schlüssel. Ja, am nächsten kam der goldene Schlüssel ihrem Haustürschlüssel.
    Seltsam.
    Ihr Großvater musste also ein Geschenk hinter einer Tür versteckt haben. Vermutlich in der Victoria Street. Nein, Victoria Street konnte auch nur ein Verweis auf den Schlüsselmacher sein. Denn warum sollte ihr Großvater etwas in der Victoria Street verstecken? Das war absurd.
    Grübelnd fiel ihr Blick auf das immer noch volle Tablett. Gut, dann würde also erstmal gefrühstückt, geduscht, angezogen. Nachdenklich schlürfte Lara weiter an ihrem Kakao. Was für ein seltsames Rätsel hatte der alte Henry ihr da wohl gestellt?

    Der Gedanke war dumm. Eigentlich so dumm, dass er schon beinahe wieder lustig war. Nachdem Lara das Bad in Jeans und grauem Wollpullover verlassen hatte, stand sie schließlich vor der Wohnungsstür. Schal, Mütze und Mantel hatte sie schon angezogen (nebst der sorgfältig drapierten, bernsteinfarbenen Locke). Den neuen Schlüssel in der Hand blickte sie unentschlossen auf die Haustür. Sollte ihr Großvater ihr lediglich einen neuen, schönen Haustürschlüssel geschenkt haben? Manchmal konnte Henry McLane ganz unvermittelt von den Wertvorstellungen einer alten – für Lara antiken – Zeit angefallen werden. Dann tat er Dinge, die er meistens mit Sätzen erklärte, die mit »Ein ordentliches Mädchen« anfingen: Ein ordentliches Mädchen sollte wenigstens ein gutes Kleid besitzen. Ein ordentliches Mädchen sollte wenigstens etwas mehr als gar nicht kochen können. Ein ordentliches Mädchen sollte die grundlegendsten Regeln von Anstand kennen. Ein ordentliches Mädchen sollte … und so weiter. So etwas kam nicht oft vor. Wahrscheinlich noch nicht einmal jedes Jahr. Dennoch hatte es dazu geführt, dass Lara ein schickes Abendkleid besaß, einen Tanzkurs besucht hatte – der wiederum dazu geführt hatte, dass das Kleid wenigstens ein Mal in
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