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Falsch

Falsch

Titel: Falsch
Autoren: Gerd Schilddorfer
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7. November 1917,
St. Petersburg/Russland
    Die Roten Garden waren schneller da gewesen, als er geglaubt hatte. Samuel Kronstein warf einen prüfenden Blick in den Empire-Spiegel über der Anrichte des Speisezimmers und richtete sich die Krawatte mit dem gestickten Familienwappen.
    Schüsse hallten in den Straßen, Menschen stoben in Panik davon.
    Mit einer fast zärtlichen Geste fuhr sich der große Mann über das Revers seines Smokings, nahm seinen Spazierstock, wählte einen Hut und drehte sich einmal langsam um die eigene Achse. Dabei glitt sein Blick über die wertvolle Louis-seize-Einrichtung, die Sammlung an französischen Impressionisten und die Vitrine mit dem Sèvres-Porzellan. Er schüttelte bedauernd den Kopf. Nein, es gab Momente im Leben, da konnte man nichts mitnehmen. Und dies war einer jener Augenblicke, vor denen ihn seine Großmutter immer gewarnt hatte. Martha Kronstein war eine Überlebenskünstlerin gewesen, ihr Leben gezeichnet durch Pogrome und Hetzjagden, geprägt von lebenslanger Diskriminierung der jüdischen Population in der Zarenzeit, bevor sie im hohen Alter schließlich nachsichtig und gütig wurde.
    Aber nie unvorsichtig.
    Und sie hatte meist recht behalten mit ihren Warnungen, Gott hab sie selig, dachte Kronstein, schob die schwere Gardine zur Seite und blickte aus einem der großen Fenster auf den Newski-Prospekt. Die Schüsse waren wieder verstummt, die Straße wie leergefegt.
    Erregte Stimmen ertönten nun von der Freitreppe. Seine Bediensteten schienen Eindringlinge aufhalten zu wollen. Braver Alexej, lächelte Kronstein traurig, du stemmst dich vergebens gegen den Strom der Geschichte. Die Zeit hat uns bereits überholt und überrollt zugleich.
    Unten wurde lautstark gestritten. Das Palais Kronstein war nicht irgendein Ort, in den man so selbstverständlich eindrang, nicht einmal als Soldat der Revolutionsgarden. Hier waren Lenin und Trotzki ein und aus gegangen, hatten Nächte durchgetrunken und hitzig diskutiert. Der Salon des berühmtesten Schmuckhändlers Russlands hatte allen offengestanden. Wenn der russische Adel Wertvolles veräußern wollte, hatte man stets den diskreten Kronstein gerufen. Wenn die Revolutionäre Geld brauchten, hatten sie bei ihm angeklopft und waren selten mit leeren Händen abgezogen. Samuel Kronstein, einst einer der bekanntesten Mitarbeiter des Hofjuweliers Fabergé, hatte vor dreißig Jahren das goldene Handwerk an den Nagel gehängt und war in den Handel mit edlen Steinen und Pretiosen eingestiegen. Sein makelloser Ruf und seine untadelige Vergangenheit hatten ihn schnell zu einem der gefragtesten Schmuckhändler in St. Petersburg, ja in ganz Russland gemacht. Selbst der Zar hatte ihm schriftlich gedankt, seine schützende Hand über ihn gehalten, aber Kronstein hatte rasch gelernt, sich immer alle Optionen offenzuhalten.
    Großmutter Martha sei Dank.
    Eine Investition, die sich nun bezahlt machen könnte, dachte er und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Trotz seiner siebzig Jahre sah er noch immer bemerkenswert gut aus. Schlank, hochgewachsen und mit einer weißen Mähne, die immer ein wenig zu lang, jedoch stets perfekt frisiert war, gehörte er zu den – im wahrsten Sinne des Wortes – herausragenden Persönlichkeiten der St. Petersburger Gesellschaft. Er war in die richtigen Schulen gegangen, hatte mit den richtigen Mädchen getanzt und mit einigen von ihnen geschlafen.
    Nur die Richtige hatte er nie gefunden.
    St. Petersburg hatte es immer gut mit ihm gemeint. Er würde diese Stadt vermissen, mit ihren rauschenden Festen und den weißen Nächten, in denen es im Sommer vierzehn Tage lang nicht dunkel werden wollte. Wie oft hatte man rund um die Uhr durchgefeiert, in Kaviar und Champagner geschwelgt und sich mit jungen Ballettratten amüsiert? Und immer wieder, zwischen opulenten Soupers und ausschweifenden Orgien, hatte man in lauten Trinksprüchen den Zaren hochleben lassen. Jetzt, in der neuen Zeit, würden es wohl eher frigide Revolutionärinnen, Lenin und proletarischer Wodka werden, dachte Kronstein und verzog missbilligend das Gesicht.
    Da klopfte es laut an der Tür, und er fuhr herum. Im Haus war es ruhig geworden, und der alte Mann fragte sich überrascht, ob Alexej vielleicht erfolgreich gewesen war und die Revolutionäre hinausgeworfen hatte. Aber ein Umsturz machte nicht an der Türschwelle halt, auch nicht an der des Palais Kronstein …
    Die schwere Doppelflügeltür öffnete sich mit einem Ruck, und hinter dem
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