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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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was danach kommt, kann einem den Boden unter den Füßen wegziehen.
    »Ich glaube, das halbe Jahr mit dir in Deutschland hat Jim verändert«, sagte er schließlich. »Er hat sich aus den Zwängen befreit, die er sich selbst auferlegt hatte. Sosehr er auch versuchen würde, unsere jahrhundertealten Traditionen einzuhalten, er würde immer auf der Verliererseite stehen, und das hatte er begriffen. Er wollte sich der Gegenwart stellen, aber nun hatte er keinerlei Schutz mehr, weil er seine Identität aufgegeben hatte. Die Wahrheit hat ihn das Leben gekostet.«
    »Was soll ich nun meiner Tochter erzählen?«, fragte Hanna. »Dass ihr Großvater ihren Vater getötet hat, weil er von Sklaven abstammte?«
    »Nein, natürlich nicht. Matthew ist nicht ihr Großvater.«
    »Nein. Ihr richtiger Großvater lebt auf einer kleinen Insel mit dem schönen Namen Anaqoo und hat keine Ahnung von der Existenz seiner Enkeltochter.«
    »Lass den Dingen einfach ihren Lauf, Hanna. Erzähl deiner Tochter, dass sie ihren Vater nicht auf die übliche Weise kennenlernen kann. Nicht als Mann, der sie auf seinen Schultern tragen wird und ihr Geschichten erzählt. Sie wird ihn auf andere Weise kennenlernen.«
    »Wie?«, fragte sie und er hörte die Tränen in ihrer Stimme.
    »Bring Ola hierher nach Neah Bay. Mehr brauchst du nicht zu tun. Dieses Land ist in ihrem Blut und es wird durch den Wind, die Wellen und die Bäume zu ihr sprechen. Vielleicht wird es Ola dann genauso ergehen wie mir mit meinem Urgroßvater, dem Großvater meiner Mutter. Er war ein großer Walfänger. Und obwohl ich ihn nie kennengelernt habe, ist er ein Teil meiner Erinnerung. Gib Ola die Chance, Erinnerungen an ihre Vorfahren zu haben. Lass sie ein ganzer Mensch werden.«

22. Kapitel
    Die Nacht trennte sich von den Körpern, die erst vor einer Stunde Schlaf gefunden hatten. Morgenlicht erreichte sie und streifte ihre Trauer. Als es an die Tür klopfte, zog Greg seinen Arm unter Hannas Nacken hervor. Er schlüpfte in seine Jeans und öffnete. Vor der Tür stand Bill Lighthouse. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Im Gesicht des Sheriffs las Greg, was er ihm gleich sagen würde.
    Bill räusperte sich. »Ich habe gerade einen Anruf bekommen, Greg«, sagte er. »Sie haben ihn vor einer Viertelstunde am Strand gefunden.«
    »Er ist tot«, stellte Greg fest. Er fühlte nichts als Leere im Kopf.
    Bill nickte. »Er wurde angespült.« Im erschöpften Gesicht des jungen Sheriffs spiegelte sich tiefes Bedauern.
    »Gib mir zehn Minuten«, sagte Greg und warf einen Blick auf Hanna, die aus dem Gästezimmer getreten war und ihn verständnislos anblinzelte. »Ich ziehe mich nur an, dann komme ich mit dir.«
    Greg schloss die Tür.
    »Mein Vater ist tot«, sagte er zu Hanna, »sie haben ihn am Strand gefunden.« Er zog sein Hemd über das T-Shirt und knöpfte es zu. »Der Chief wird noch einige Fragen an mich haben. Kommst du mit?«
    Sie umarmte ihn kurz. »Natürlich. Ich bin gleich so weit.«
    Auf dem Polizeirevier erwartete Oren Hunter sie bereits. Auch ihm sah man an, dass ihm die Geschehnisse der vergangenen Nacht schwer zu schaffen machten. Er bot Hanna und Greg Platz auf zwei Besucherstühlen an und sie setzten sich. Sheriff Lighthouse lehnte sich gegen die Wand.
    »Ist er ertrunken?«, fragte Greg.
    Hunter schüttelte den Kopf.
    »Er war ein guter Schwimmer.« Greg hörte die Hilflosigkeit in seiner eigenen Stimme.
    Der Chief starrte auf seine Hände. »Dein Vater ist von den Klippen gestürzt. Ich weiß nicht, ob er gefallen oder gesprungen ist.«
    Er hat Selbstmord begangen, um seine Qual zu beenden, dachte Greg. »Muss ich ihn identifizieren?«
    Hunter nickte. »Er ist in der Klinik. Bill wird dich begleiten.«
    Sie gingen nach draußen und fuhren um ein paar Straßenecken zur Klinik. Hanna wartete im Auto, während der Sheriff Greg in die Leichenhalle begleitete.
    Matthews sterbliche Überreste lagen in einem Plastiksack und Bill entschuldigte sich dafür. »Wenn du ihn identifiziert hast, bringen sie ihn nach Port Angeles. Dort soll er obduziert werden. Das ist Vorschrift«, fügte er hinzu.
    Greg schluckte und nickte. Das würde seinem Vater nicht gefallen. Die Vorschriften der Weißen begleiteten ihn noch über den Tod hinaus.
    Bill öffnete den Reißverschluss ein Stück und Greg betrachtete das vertraute Gesicht seines Vaters. Ein Lächeln lag auf den Lippen des Meisterschnitzers. Er sah friedlich aus. Greg nickte und der Sheriff zog den Reißverschluss wieder
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