Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
Späne. Schon eine ganze Weile hatte Jim nicht mehr helfend eingegriffen. Als Greg endlich von seiner Arbeit aufblickte, hatte Jim ihm den Rücken zugewandt und entfernte sich von ihm.
    »Lass mich nicht allein«, wollte Greg schreien, aber aus seinem Mund kam nur ein heiseres Flüstern. Jim drehte sich noch einmal kurz um und Greg sah ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht, bevor er weiterging und seine große Gestalt eins wurde mit den Nebeln, die mit dem Morgengrauen kamen.
    Als Greg sich wieder seinem Pfahl zuwandte, sah er, wie seine Figuren lebendig wurden. Sie lösten sich aus dem Holz und stiegen zum Himmel auf, dorthin, wo die Wipfel des nahen Waldes in flammendes Morgenrot tauchten. Vor dem brennenden Hintergrund bildeten sie eine Reihe schwarzer Gestalten: Bär, Otter, Wolf, Lachs und zuletzt der Rabe.
    Den Kopf im Nacken starrte Greg auf die Gestalten, denen er mit seinen Händen Leben eingehaucht hatte und die zu mächtigen Symbolen am Himmel geworden waren.
    Am nächsten Morgen stand Greg zeitig auf – ohne Hanna zu wecken. Er schrieb ihr einen Zettel, dass er in die Werkstatt gefahren war und sie später dorthin kommen sollte. Auf seiner Fahrt am Waatch River entlang nach Neah Bay versuchte Greg, sich an jedes Detail seiner Vision zu erinnern. Jim hatte ihm sein Werkzeug und sein Können überlassen, bevor er sich endgültig von ihm verabschiedet hatte. Greg war sich sicher, dass er Jims Werkzeuge in der Holzwerkstatt finden würde, wenn er nur richtig danach suchte.
    Jetzt war er, Greg Ahousat, der einzige Cha-la-bush in Neah Bay. Seine Aufgabe würde es sein, ein Vermächtnis zu erfüllen. Er musste ein guter Holzschnitzer werden, einer, dessen Blut und Schweiß sich mit der Maserung des Holzes vermischte, während er arbeitete. Auf diese Weise konnte er auch seine innere Harmonie wiederfinden.
    Nie war Greg sich seiner Fähigkeiten so sicher wie in diesem Augenblick. Die Vision war eindeutig gewesen. In seinen Händen lag die Kraft, Dinge lebendig werden zu lassen. In einer Welt, die ständig im Wandel war, würde er als Holzschnitzer etwas Beständiges schaffen.
    Greg parkte seinen Pick-up neben der Werkstatt, schloss auf und fing an, in den oberen Räumen nach Jims Werkzeug zu suchen. Es dauerte gar nicht lange und er fand die Aluminiumbox, die sein Vater nur unter ein paar alten Decken versteckt hatte. Als ob er gewollt hatte, dass Greg sie fand.
    Auf einem rohen Zedernbrett, das er über zwei Holzböcke gelegt hatte, breitete Greg Jims Werkzeug aus. Zwei Dechsel, einen Hammer aus Erlenholz mit geschnitztem Griff und Holzmeißel in unterschiedlicher Größe. Große und kleine Messer mit geformten Klingen.
    Als Greg den Hammer mit dem kunstvoll verzierten Griff in der Hand wog, spürte er die Verbindung zu Jim so deutlich, dass die Trauer ihn zu überwältigen drohte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung, sog den Duft des Zedernholzes in seine Lungen. Und auf einmal pulste ein starker Energiestoß durch seinen Körper. Greg beugte sich über den Pfahl, setzte den Meißel an eine vorgezeichnete Linie und ein großes Stück Zedernholz flog davon. Noch mehr Späne fielen. Der Stamm der Zeder begann, seine Geschichte zu erzählen.
    An manchen Stellen waren die Jahresringe dichter und das Holz härter. Das waren Jahre, in denen es nicht so viel geregnet hatte. Greg Ahousat brauchte mehr Kraft, um das Holz dieser Jahre zu schneiden. An anderen Stellen war es weicher. Greg versuchte, seine Reliefs dem Verlauf der Maserung anzupassen und aus dem Stamm herauszuholen, was schon in ihm war. Der Stamm sagte ihm, was er tun sollte. Mal schneiden, mal stehen lassen.
    Während Greg Ahousat die Zeder bearbeitete, hörte er das Tosen des Meeres aus vergangenen Jahrhunderten. Das stetige Auf und Ab von Ebbe und Flut, das die Küste formte. Er hörte die Handtrommeln und den Gesang seines Volkes, wenn sie ein Potlatch-Fest feierten und sich Hilfe, Mut und Mitgefühl von übernatürlichen Wesen erhofften. Greg hörte die Klagen der Überlebenden, nachdem eine von den Weißen eingeschleppte Epidemie so viele von ihnen dahingerafft hatte. In seinen Ohren klang das Weinen der Frauen, als ihre Männer vom Walfang nicht zurückkehrten, oder die Schreie der Kinder, wenn sie von ihren Eltern fortgenommen und auf weit entfernte Schulen geschickt wurden.
    Gregs nächtliche Vision und Jims Werkzeuge führten seine Hände. Duftende Zedernspäne fielen, während Greg begann, seinen eigenen Rhythmus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher