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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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Satz zu Ende sprechen konnte.
    Er zeigte hinüber zur Straße, wo Jims Bruder gegen das Heck eines Wagens gelehnt stand und wartete.
    Greg und Hanna verabschiedeten sich von den anderen und gingen zu Paul, um ihn zu begrüßen. Erst als sie beim Wagen angekommen waren, sahen sie, dass Paul seinen Vater mitgebracht hatte. Der alte Mann schüttelte Greg die Hand und dann Hanna. Jim Kachook ließ Hannas Hand lange nicht los. Tränen standen in seinen Augen und er brachte kein Wort hervor.
    Schließlich sagte er: »Diesmal haben wir Jim endgültig verloren.« Sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf geflochten – genau so, wie Jim es manchmal getragen hatte.
    »Jim ist nicht tot«, sagte Greg, »nicht in unseren Gedanken.«
    »In Ola wird er weiterleben«, fügte Hanna hinzu.
    Sie fuhren gemeinsam an den Strand. Greg war kein besserer Ort eingefallen, denn er hätte den alten Mann unmöglich in sein Haus führen können, wo unter dem Pfahl noch das Loch von Jims Grab klaffte.
    Sie einigten sich darauf, dass Jim Kachook auf Anaqoo seine letzte Ruhe finden sollte. Dort war seine Mutter beerdigt und dort lebte seine Familie, die nie aufgehört hatte, ihn zu lieben.
    »Mein Vater hat viel Geld hinterlassen«, wandte sich Greg an Paul. »Einen Teil davon sollen deine Kinder bekommen. Irgendwann einmal werden sie es brauchen. Den Rest bekommt Ola, ich brauche nichts.«
    Ich habe zwei gesunde Hände und eine Menge Ideen.
    Nach einigem Zögern nahm Paul das Geschenk an. Hanna versuchte gar nicht zu protestieren, weil sie wusste, dass Greg seinen Entschluss nicht ändern würde.
    An Hanna gewandt fragte der alte Kachook: »Werde ich meine Enkeltochter kennenlernen?«
    »Ja«, sagte sie lächelnd. »Ich werde Ola sobald wie möglich hierherbringen. Dann besuchen wir Sie und Ihre Familie auf Anaqoo. Ola wird sich freuen, ihren Großvater zu sehen.«
    Diese Auskunft entlockte Jims Vater ein hoffnungsvolles Lächeln und versetzte Gregs Inneres in Aufruhr. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Hanna würde wiederkommen und ihre Tochter mitbringen.
    Man konnte nicht behaupten, dass alles gut war, das würde es nie werden, doch langsam kamen die Dinge wieder in Ordnung. Sie hatten Jim gefunden. Und auch wenn sein Tod schmerzlich war, sinnlos war er nicht. Jim Kachook würde am Ende dorthin zurückkehren, wo er hingehörte. Greg hoffte, dass er auf Anaqoo seine Ruhe finden konnte. Und Hanna wusste nun, dass Jim nicht fortgegangen war, weil er sie nicht mehr wollte.
    Ola hatte einen Großvater, Onkel und Tante und drei dunkelhäutige Cousins und Cousinen bekommen.
    Und er selbst?
    Greg hatte nun die Ehre und die Pflicht, das Erbe seiner Ahnen weiterzugeben. Er wünschte sich einen Sohn, dem er alle Zärtlichkeit der Welt schenken würde. Und er wollte ihn lehren, wie man Otter, Wal und Donnervogel schnitzt. Dabei sollte es niemals Zwang und starre Regeln geben, und keine Vergangenheit, die eine Liebe erdrücken konnte. Greg Ahousat wollte den schmalen Pfad zwischen Tradition und modernem Leben gehen und täglich aufs Neue seine Wahl treffen.
    In der Nacht nach der Beerdigung hatte Greg eine Vision. Jim stand neben seinem Bett und forderte ihn durch Gesten auf, ihm zu folgen. Greg lief hinter dem wortlosen Jim her, bis sie in die Werkstatt des Meisterschnitzers gelangten. Es war Nacht, Neah Bay schlief und Greg war außer Atem. Jim nicht. Als hätte ihm der weite Lauf überhaupt nichts ausgemacht.
    Sie standen vor Gregs angezeichnetem und grob bearbeitetem Pfahl und Greg war voller Erwartung, was als Nächstes passieren würde. Er sah Jim fragend an, der lächelnd auf die Werkzeuge wies, die fein säuberlich im Mondlicht nebeneinander aufgereiht lagen. Es war Jims Werkzeug, von dem er sich niemals getrennt hatte. Sein ganzer Stolz, denn er hatte es eigenhändig hergestellt und verziert.
    Was willst du mir sagen, Jim?
    Jims Geist nickte ihm aufmunternd zu. Da begriff Greg, dass er arbeiten sollte. Er sollte schnitzen unter den wachsamen Augen seines Bruders. Zögerlich griff er nach der Ellenbogenaxt mit dem verzierten Griff und begann, den Stamm zu behauen. Mit herabhängenden Armen stand Jim dabei und sah ihm zu. Manchmal schüttelte er ernst den Kopf und zeigte Greg, wenn er etwas falsch gemacht hatte.
    Greg vergaß die Zeit und er vergaß Jim, so sehr vertiefte er sich in seine Arbeit. Er arbeitete die restlichen angezeichneten Figuren aus dem Holz, gab ihnen Augen und Münder. Unermüdlich fielen
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