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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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geschlossen. Er war sicher gewesen, dass Jim endlich Vernunft angenommen hatte. Aber dann war Jim mit seinen Plänen und Wünschen herausgerückt. Er wollte die deutsche Frau heiraten und mit ihr in Neah Bay leben. Sie hatten sich gestritten, hatten sich angebrüllt, bis Jim ihm die furchtbare Wahrheit ins Gesicht geschrien hatte.
    Matthew war wie von Sinnen gewesen. Als Jim ihm den Rücken zuwandte, weil er wutentbrannt das Haus verlassen wollte, hatte er zugeschlagen. Ahousat hatte den Bewusstlosen gefesselt und nach draußen geschleift, wo das Loch für den Totempfahl schon ausgehoben war. Er brauchte es nur noch etwas zu vertiefen.
    Der alte Mann krümmte sich auf dem nasskalten Felsen, denn jetzt war er tief unten an den Wurzeln der Erinnerung angelangt, die er in den letzten Jahren so erfolgreich gemieden hatte. Jim kam wieder zu Bewusstsein, nachdem er ihn in die Grube gestoßen hatte. Er sprach mit seinem Wahlvater, als er Erde über ihn schaufelte. Aber Ahousat hörte nicht, wie Jim um sein Leben bettelte. Seine Ohren waren taub gegenüber den erdigen Worten des jungen Mannes, der seine Vergangenheit und seine Zukunft bedroht hatte.
    »Ich musste es tun, Jim«, flüsterte Matthew Ahousat und hatte nun selbst den Geschmack von Erde im Mund. »Ich musste es doch tun.« Er erhob sich langsam und lief ein paar Schritte, bis er direkt am Rand der Klippen stand.
    Wenn ein Mensch den Punkt erreicht, an dem ihm das Töten als einziger Ausweg erscheint, dann geht in seinem Inneren etwas kaputt und er wird zu einer anderen Person.
    Matthew war nicht mehr der, der er einst gewesen war. Sein Hass war ihm wichtiger gewesen als Jims Leben. Noch immer verspürte er die Macht, die ihn stets begleitet hatte, aber nun war der Tod unmittelbar daran beteiligt. Seine Gedanken waren erfüllt von grausamer Finsternis. Sein Blick suchte den Horizont, doch das Meer und die Nacht schienen eins geworden zu sein. Ahousat trat einen weiten Schritt nach vorn, um sich mit ihnen zu vereinen.
    Das Bett in Bills Gästezimmer war schmal, aber das war nicht der Grund, warum Greg und Hanna keine Ruhe finden konnten. Dunkelheit umhüllte sie. Greg wusste, dass Hanna wach war. Ihr Atem ging unruhig. Wahrscheinlich hatte sie Angst einzuschlafen, weil dann die Träume kamen. Aber war die Realität nicht schrecklicher als jeder Traum?
    Wie gerne hätte Greg etwas gesagt, das Hanna dabei geholfen hätte, das Geschehene besser zu verstehen. Doch er verstand die Welt selbst nicht mehr. Sein Vater war ein Mann, der vollkommen die Orientierung verloren hatte. Um eine sinnentleerte Ordnung einzuhalten, war er zum Mörder geworden. Er hatte kaltblütig jenen Menschen getötet, der die gebündelte Last seiner Hoffnungen trug. Aber frei von Schuld war auch Jim nicht. Mit seiner Besessenheit hatte er das Leben so vieler Menschen durcheinandergebracht.
    Kurz nickte Greg ein und schreckte nur Sekunden später aus einem Traum. Wieder hatte er Jim am Rand der Grube stehen sehen, seine bleichen Lippen hatten Worte geformt.
    Mein Vater hat ihn lebendig begraben.
    Der Tod musste als Freund zu Jim gekommen sein. Die schrecklichen Bilder schienen nicht nur durch Gregs Kopf, sondern durch seinen ganzen Körper zu wirbeln. Was waren Jim Kachooks letzte Gedanken gewesen, als feuchte schwarze Erde in seine Nase und seinen Mund drang, während er verzweifelt versuchte zu schreien? Was willst du mir sagen, Jim? Greg stöhnte leise.
    Sanfte Finger strichen über seine Brust. »Ich würde es gerne verstehen«, flüsterte Hanna. »Aber es gelingt mir nicht. Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe.«
    Greg zog sie in seine Arme und er spürte den Trost ihres warmen Körpers. »Manchmal geschehen Dinge, die gehen weit über unseren Verstand hinaus. Ich bin ein Makah, aber auch ich kann nicht verstehen, was sich in den Köpfen dieser beiden Männer abgespielt hat.« Er stöhnte auf. »Jim war wie ein Fluss ohne Ufer, er riss alles mit, was ihm zu nahe kam.«
    »Wie konnte er Annie das antun? Wie konnte er von einem Tag auf den anderen mit mir fortgehen?«
    »Vielleicht fürchtete er sich davor, seine Lebenslüge zuzugeben und dadurch jene Menschen zu verlieren, die er liebte? Möglicherweise sah er darin einen Ausweg, dem Chaos zu entkommen, das er selbst angerichtet hatte? Vielleicht hatte er es satt, sich zu verstellen.«
    Hanna schwieg. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und atmete ihren Duft ein.
    Vielleicht kann man die Vergangenheit bewältigen, dachte Greg, aber
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