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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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am Hang,
     vierzig Kilometer weg, mitten am Tag, mitten in der Woche, keine aktive Gehirnzelle mit dem Geschehen in Marbrunn befaßt,
     das, wie ich festgestellt hatte, tatsächlich auch ohne mich stattfand.
    »Ja?« Liddy hob etwas Hellrotes aus ihrer Gemüsesuppe und betrachtete es amüsiert-skeptisch. Die Grenzen zwischen fleischhaltiger
     und fleischloser Kost waren in solchen Restaurationen recht fließend. Warum sie inzwischen vegetarische Kost bevorzugte, hatte
     sie mir nicht erzählt, aber ich war gespannt darauf, es zu erfahren.
    »Manchmal muß ich daran denken, wie es war, als ich in der
Scheune
aufgelegt habe.«
    Liddy zog die Augenbrauen hoch. Ihre grünen Augen |244| strahlten mich kurz an, widmeten sich dann wieder dem Löffelinhalt. Aber sie schmunzelte.
    »Ich hatte damals keine Idee davon, wie sich mein Leben entwickeln könnte. Was auch immer ich mir gedacht habe – und ich habe
     wenig gedacht in dieser Zeit –, mit dem hier hatte es nichts zu tun.« Wie zur Dokumentation hob ich die Gabel in die Luft,
     auf der ein Stück Knödel steckte.
    »Semmelknödel?« fragte Liddy lächelnd.
    »Nö.«
    »Sondern?«
    »Daß mir andere Dinge einmal mehr bedeuten könnten als Radio«, erklärte ich, leise, als wollte ich verhindern, daß es als
     Aussage vor Gericht plötzlich gegen mich verwendet werden könnte. Ich schob die Schultern zurück, richtete meinen Oberkörper
     auf und wiederholte, lauter: »Daß mir andere Dinge einmal mehr bedeuten könnten als Radio.«
    »Dinge?«
    »Nicht wirklich
Dinge
.« Ich grinste schief. »Menschen. Freunde.«
    Liddy sagte nichts, kaute weiter, sah mir dabei in die Augen.
    »Du«, erklärte ich schließlich. »Du, vor allem. Eigentlich schon immer.« Ich atmete tief, drei, vier Male.
    Weil Liddy nichts sagte, war ich gezwungen weiterzureden, und deshalb räusperte ich mich, nahm wieder Haltung an.
    »Vielleicht wäre es keine so schlechte Idee, wenn wir …«
    »Ja«, unterbrach sie mich.
    Ein Löffel und eine Gabel gingen zu Boden.
     
    Wir heirateten im Sommer 1997, im Standesamt Marbrunn, vor dessen Türen eine unüberschaubare Menschenmenge auf uns wartete.
     Frank und Lindsey gaben die Trauzeugen, deutlich aufgeregter als ich selbst – ich war einfach nur glücklich, zufrieden, behaglich,
     was weiß ich: Ein Topf voll mit guten Gefühlen, umgeben von Freunden, neben einer Frau, die ich liebte.
    |245| Das Wir-Gefühl in seiner vollendeten Form. Wir feierten im
Cellar
, und ich setzte mich gegen Kranitz und Charlie durch, die die Party unbedingt live übertragen wollten. Liddy war schwanger,
     und was immer auch passierte:
Mein Kind
würde nicht im Keller schlafen müssen.

[ Menü ]
    |246| Outro
    Lindsey nippt an seinem
Marbrunner Dunkel
. Er sieht frisch aus, erholt, jung, collegeboymäßig, wenigstens wie ein Collegeboy, der ein paar Monate überzieht. Vor drei
     Tagen ist er aus Amerika zurückgekehrt, hat alte Freunde besucht, ein paar Radiostationen, von denen einige noch immer erfolgreich
     sind, andere in der fünften Reihe bei den
Networks
herumdümpeln, drei, vier Stunden eigenes Programm, der Rest
Syndication
. Er trägt ein
MBR
-T-Shirt, das hat er die ganze Zeit über gemacht, in den Staaten. Und er ist froh, wieder zu Hause zu sein.
    Vor uns steht der Preis. Ein stilisiertes Plexiglasmikro auf einem vergoldeten Fuß. Der
BIRSE
. Ich hebe mein Bier und proste Lindsey zu.
    »Fucking
Best Independent Private Radio Station, Europe «
, sagt Lindsey. Ich nicke.
    Weil Lindsey in den USA weilte und ich mich um andere Sachen zu kümmern hatte, durfte Hagelmacher nach Brüssel fliegen, zur
     Preisverleihung. Vorher war er tagelang mit vor Aufregung rotgesprenkeltem Gesicht in der Stadt herumgelaufen, hatte alle
     verrückt gemacht, Leute mit »Hau ah juh?« angequatscht und andauernd »Hei, eim
Mennfrett Häigelmäkker
« erklärt. Er war nach München gefahren, um irgendwo einen Smoking aufzutreiben, in dem er nicht wie eine Scheiß-Vogelscheuche
     aussah. Vergeblich. Hagelmacher hätte in einem
Raumanzug
wie eine Vogelscheuche ausgesehen. Liddy war völlig fassungslos, als er das Ding vorführte. Sie mußte so heftig und lange
     lachen, daß ich schon eine Frühgeburt befürchtete.
     
    Letztlich hatte er seine Sache prima gemacht. Nach der Begrüßung war er vor lauter Aufregung einfach zu Deutsch übergegangen, |247| was ein paar unvorbereitete Dolmetscher in ziemliche Verwirrung stürzte. Der heikelste Moment entstand am Ende, als er die
    
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