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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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festen Programmplätze, keine stündlichen Nachrichten. Wie beim Autoschrauber, der mal einen
     Lackkratzer am Ferrari ausbessern soll und in der nächsten Viertelstunde eine verdammte
Ente
tunen. Oder einem Bully ein Wasserbett einbauen, was weiß ich. Lebendiges Radio, das sich andauernd entwickelt, wo die Sendungen
     eine lange, unterhaltsame Fortsetzungsgeschichte sind und nicht lauter Bruchstücke, bei denen ein Supermax den vorigen übertrumpfen
     will. Oder den nächsten. Minimale Vorgaben, höchstens bei der Musik. Drauf und los.«
    »Meinst du, das würde jemand hören wollen?« fragt Liddy skeptisch.
    »Darauf kannst du deinen Arsch verwetten, das Schmuckstück.« Ich grinse sie anzüglich an, aber sie zieht nur eine Augenbraue
     hoch, die grünen Augen blitzen. »Stell dir das vor: Ein Radioprogramm, bei dem
alles
passieren kann, wie im richtigen Leben, aber eben nicht, weil sich ein paar kettenrauchende Dummköpfe in der Redaktion zu
     einer seltsamen Idee von
Spaß
einen abwichsen, sondern weil hinter dem Mikro echte, lebendige Menschen sitzen. Und nicht nur
Stimmen

    |250| »So eine Art Daily Soap, vierundzwanzig Stunden am Tag, per Kopfhörer?« fragt Lindsey. Er zwinkert mir zu, und etwas in seinem
     Gesicht sagt mir, daß er durchaus versteht, der Collegeboy. Seit drei Wochen hat er eine feste Freundin, unglaublich. Trägt
     manchmal Halbschuhe statt der eigentlich unvermeidlichen Sneakers.
    »Nein. Nur eine Durchdringung.
People Are People
. Warum sollen die Radioleute aufhören, Menschen zu sein, nur, weil sie ein Mikro vor dem Gesicht haben? Die Hörer sind doch
     auch nicht ausschließlich Hörer, sondern sie haben einen ganzen Kopf zwischen den Ohren und einen ganzen Körper unmittelbar
     darunter. Radio für die Ohren, den Kopf, den Bauch, meinetwegen sogar für den Arsch. Ganzkörperfunk sozusagen.«
    »Ich kann mir das nicht so richtig vorstellen«, sagt Liddy. Ich sehe sie an.
    »Ich auch nicht«, gebe ich zu. »Wirklich, ich habe nicht den leisesten Schimmer. Aber ich habe eine Ahnung davon, wie es sich
anfühlen
sollte.«
    Lindsey stützt sich auf den Armlehnen aus dem Stuhl und geht zum Klo. Dabei nickt er vor sich hin.
    »Weißt du«, sage ich zu Liddy. »Als ich klein war, keine Ahnung mehr, wie alt genau, da gab es eine Nacht, in der ich ganz
     alleine in meinem Etagenbett lag, das Haus war leer, und
irgendwas
krabbelte und knisterte in der Wand, direkt neben meinem Bett.«
    Liddy nickt, ich habe ihr die Geschichte sicher schon ein halbes dutzendmal erzählt. Trotzdem fahre ich fort.
    »Ich habe mich zu Tode gefürchtet, wirklich. Aber ich hatte mein Radio, mein kleines, gelbes Radio. Es hat mir das Leben gerettet,
     irgendwie.«
    Liddy nickt wieder, lächelnd.
    »Ich weiß, das ist ein bißchen viel verlangt. Aber
genau
das Gefühl, das ich damals hatte,
das
würde ich den Hörern gerne geben.«

[ Menü ]
    |251| Remix
2017
    »Wie alt ist der Mann jetzt?« frage ich und sehe zum Head-Up-Display, um meinen Vater anzuschauen, der hinten im Wagen sitzt.
    »Neunundsechzig», antwortet er lächelnd.
    »Alle Achtung.»
    »Es ist immerhin seine Abschlußtour », sagt Donald und macht dabei eine Kopfbewegung, die ein wenig traurig aussieht. »Und
     er ist ja kein Rocker, wie die Stones, die noch aufgetreten sind, als Mick Jagger schon zweiundsiebzig war.»
    Ich nicke. Die legendäre
Never-Satisfied -Tour
vor zwei Jahren. Keith Richards stand im Stützkorsett auf der Bühne und sah dabei aus, als könne er sekündlich tot umfallen.
     Den Part von Charlie Watts spielte man per Videokonserve zu, denn der Mann war tauber als ein Kieselstein, lebte seit fünf
     Jahren als Pflegefall in einer noblen Altersresidenz. Trotzdem waren Millionen Tickets verkauft worden.
    Meine Mutter beugt sich zur Seite, legt ihren Kopf auf Donalds Schulter und zwinkert mir mit ihren grünen Augen zu. Natürlich
     bin ich voreingenommen, aber sie sieht objektiv immer noch großartig aus, obwohl sie Anfang fünfzig ist. Sie würde auch für
     Anfang vierzig durchgehen. »Wir müssen da einfach hin«, sagt sie und küsst den Hals meines Vaters. »Es hat wirklich Bedeutung.«
    Ich nicke wieder. Natürlich. Ich heiße nicht ohne Grund
Jackson Kunze
. Sie haben sich kennengelernt, weil mein Vater vor tausend Jahren meiner Mutter diese Platte empfohlen hat. Platte. Album.
     So etwas gibt es schon seit einer Weile nicht mehr zu kaufen, physikalische Tonträger. Aber natürlich kenne ich
Running On Empty
. Wie oft habe ich
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