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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights
Autoren: Tom Liehr
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drückte zurück, dann drückten wir uns aneinander und küßten uns.
     
    »Ich habe euch weggehen sehen«, sagte sie. Wir lagen auf dem Bett, Stunden später, vielleicht sogar
Tage
, ich hatte mein Zeitgefühl verloren, war ganz in sie versunken, und in diese seltsame Mischung aus sich rasch verändernder
     Erinnerung und sich ebenso schnell verändernder Gegenwart. Was so alles passierte.
Herr im Himmel, bitte verändere jetzt nichts mehr
, dachte ich, lächelnd, ich alter Situationsagnostiker.
    »Ich war gerade im Lager, als ihr vor dem
Your Sound
gestanden habt. Hatte die Hände voll. Ich sah euch gehen, ließ die ganzen Sachen fallen, doch es war zu spät. Heute nachmittag
     habe ich im Radio von dir gehört.«
    Im Radio
. Ich lächelte, noch immer, schon wieder. Meine Wangenmuskeln schmerzten.
    »Dieser nostalgische kleine Laden hat’s mir nicht gerade leichter gemacht, nur am Anfang, da war es schön, pausenlos an die
     alten Zeiten zu denken und die Kids zu sehen, genauso alt wie wir damals. Die Freude über eine neue Platte, hach.« Sie lachte.
     »Ich war auf der Suche nach einem Job, bei einem Vorstellungsgespräch in einer Agentur ganz in der Nähe, da bin ich auf das
Sound-Fashion
gestoßen – es war zu vermieten. Da für Journalisten sowieso wenig im Angebot war, dachte ich, warum nicht für ein paar Monate
     so was? Allerdings hatte ich es mir einfacher vorgestellt, einen Laden zu führen.«
    Ich lachte auch, dachte aber an eine andere Art Laden.

|242| 7. Straight From The Heart
Frühjahr/Sommer 1997
    Der Niedergang von
PowerStation Berlin
kostete uns einiges, Frank und mich, eine Schadenersatzklage war anhängig, vorsorglich hatten wir die Anteile verkauft, fast
     für lau, immerhin gab es tatsächlich noch Käufer, ein paar Unbelehrbare verstanden nie, vielleicht war die Frequenz das wert;
     es interessierte mich nicht mehr. Zwei Wochen später schaltete der Sender ab, vorläufig, wie es zunächst hieß. Ich bekam das
     nur am Rande mit, wenn Frank mich anrief, ansonsten merkte ich nicht viel, brodelte über vor Liebe zu Lydia und schaffte es
     gerade einmal, meine Nachtsendungen zu fahren, ohne pausenlos liebestollen Unsinn zu faseln, während es mir außerordentlich
     schwerfiel, mich auf geschäftliche Entscheidungen zu konzentrieren, oder gar programmatische. Aber das war okay; das Gefühl
     war einfach zu schön, außerdem lief alles bestens. Vier neue Frequenzen waren hinzugekommen,
MBR
erreichte über eine halbe Million Menschen – und hieß noch immer
MarBrunn Radio
–, zwei kleine lokale Studios waren im Aufbau, die Morgensendung hatte sogar noch mehr Hörer, weil einige regionale Sender
     auf Hagelmacher umschalteten und nur kleine
Fenster
mit eigenen Beiträgen bestückten. Dadurch war zwar unser Produktionsaufwand höher, aber gleichzeitig der klapprige, agile
     Hagelmacher zu einer Art Star avanciert, seine radebrechenden Versuche, englische Bands und amerikanische Sänger anzusagen,
     deren Namen er
nicht
auswendig gelernt hatte, galten als morgendlicher Amüsiergeheimtip – davon abgesehen war der Rest seines Programmes perfekt.
     Zu einem Bonbon hatte sich unser Samstagnachmittag entwickelt: Der rehabilitierte, prostatalose Alois Sedler moderierte ein
     zweistündiges Programm zum Thema Wirtschaft, mit seinem schweren, aber gutklingenden bayerischen Dialekt, extrem amüsant, |243| bauernschlau, während auf allen anderen Sendern todlangweilige Bundesligaberichterstattung lief. Manchmal setzten sich Harmann
     und Grieberg als Co-Moderatoren dazu, und dann blieb kein Auge trocken. Das
Fiskus
-Special, das die drei mit gehörigem Aufwand vorbereitet hatten, wurde für den bayerischen Hörfunkpreis vorgeschlagen. Und
     gewann ihn auch.
     
    Marbrunn Radio
stellte nur einen Schritt auf dem richtigen Weg dar; es war eine gute, gar nicht mehr so kleine Station, ehrlich, sauber programmiert,
     weit weg vom Mainstream und Verdummungsfunk.
Die größten Hits aller Zeiten
. Wer sich solche Slogans ausdenkt, gehört mit dem Grenzflächenmikrofon zu Tode geprügelt. Oder sollte dazu verdammt werden,
     für
alle Zeiten
den eigenen Scheiß-Sender zu hören. Vor-und rückwärts. Wie es der selige Rio Reiser empfohlen hat, in einem anderen Zusammenhang.
     All diese kleinen Könige von Deutschland!
    Erstaunlicherweise beschäftigte mich all das nicht mehr rund um die Uhr.
     
    »Weißt du«, murmelte ich, auf einem herrlichen Semmelknödel herumkauend, in irgendeinem malerisch gelegenen Gasthof
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