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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel
Autoren: Stuart Neville
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dem Sofa hoch. Wie lange war er eingenickt? Nicht sehr lange. Im Fernsehen lief immer noch derselbe Film.
    Beim nächsten Schrei war er auf den Beinen. Ungefähr eine Woche war es her, seit Ellen das letzte Mal kreischend aus dem Schlaf hochgefahren war, in dem ihre Alpträume hausten.
    Seine Tochter hatte mehr Leid erfahren, als je irgendein Mensch erleben sollte. Nach wie vor wunderte Lennon sich, dass sie überhaupt noch funktionierte, dass sie die innere Kraft zum Weiterleben besaß. Vielleicht hatte sie diese starrköpfige Ader ja von ihrer Mutter geerbt, die neben ihr gestorben war. Er hatte Marie McKennas Leichnam den Flammen überlassen, als er die bewusstlose Ellen aus dem Haus in der Nähe von Drogheda getragen hatte. Ellen sprach nie darüber, was dort passiert war. Vielleicht erinnerte sie sich nicht mehr, vielleicht wollte sie auch einfach nicht sagen, was geschehen war. Wie auch immer, für Lennon machte es die Sache leichter. Er war sich nicht sicher, ob er es ertragen hätte, solche Dinge aus ihrem Mund zu hören.
    Lennon war jetzt hellwach. Er ging zu ihrem Schlafzimmer, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Ellen lag unter ihrer verknäulten Bettdecke und starrte ohne Anzeichen des Erkennens zu ihm hoch. Erneut schrie sie auf.
    Lennon kniete sich neben das Bett und legte ihr eine Hand aufdie kleine Wange. Er hatte gelernt, das Kind nicht in die Arme zu nehmen, wenn es aufwachte, verfolgt von seinen nächtlichen Schrecken. Der Schrecken war dann zu groß.
    »Ich bin es«, flüsterte er. »Daddy ist ja da. Alles in Ordnung.«
    Ellen blinzelte ihn an, und ihr Gesicht entspannte sich. Er hatte fast vergessen, wie alt sie aussah, wenn sie aus ihren Albträumen erwachte, ein siebenjähriges Mädchen, in dessen Augen sich Jahrhunderte von Schmerz spiegelten.
    »Du hast nur geträumt«, beruhigte Lennon sie. »Du bist in Sicherheit.«
    Ihre Finger wanderten zum Hals und streichelten die Haut, als schmerze sie.
    »Wovon hast du geträumt?«, fragte er.
    Seine Tochter runzelte die Stirn, vergrub den Kopf im Kissen und zog die Bettdecke so hoch, dass er nur noch ihren Scheitel sehen konnte.
    »Du kannst es mir ruhig erzählen«, sagte Lennon. »Vielleicht geht es dir dann besser.«
    Sie lugte hinaus. »Ich war ganz kalt und nass, und dann hab ich keine Luft mehr gekriegt. Ich bin erstickt.«
    »So, wie wenn man ertrinkt?«
    »Mmmm. Als hätte ich was um den Hals. Dann war da so eine alte Frau. Sie wollte mit mir reden, aber ich bin weggelaufen.«
    »Hat sie dir Angst gemacht?«
    »Mmmm.«
    »Warum bist du denn dann weggelaufen?«
    »Weiß nicht«, sagte Ellen.
    »Glaubst du, du kannst wieder einschlafen?«
    »Weiß nicht.«
    »Kannst du es versuchen?«
    »Okay.«
    Lennon streichelte ihr übers Haar. »Braves Mädchen«, sagte er.
    Leise sah er zu, wie ihr die Augenlider zufielen und ihr Atem sich beruhigte. Beim Klingeln des Telefons wurde sie einen Moment lang unruhig. Er hielt die Luft an, bis sie wieder still dalag, atmete erst wieder, als es schien, dass das Telefon sie nicht geweckt hatte, und ging hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen.
    »Bernie McKenna hier«, meldete sich die Anruferin mit schroffer Stimme.
    In den vergangenen Monaten hatten sie öfter am Telefon und persönlich miteinander gesprochen, als er zählen konnte, trotzdem meldete sie sich immer noch mit dieser steifen Förmlichkeit.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Lennon. Sein einziges Interesse an ihrem Wohlbefinden war, abschätzen zu können, wie das Gespräch sich entwickeln würde. Nur selten verliefen ihre Telefonate problemlos.
    »Mir geht es gut«, antwortete sie. Nach Lennons Verfassung erkundigte sie sich nicht. »Was ist mit Ellen?«, fragte sie stattdessen.
    »Was soll mit ihr sein?« Kaum hatte er gesprochen, bedauerte er die Feindseligkeit, die sich in seine Stimme geschlichen hatte.
    »Zu diesem Ton besteht kein Anlass«, sagte Bernie. Sie stieß die Wörter hervor, als hätte sie dabei die Lippen zusammengepresst. »Sie ist meine Großnichte. Ich habe jedes Recht, mich nach ihr zu erkundigen. Ein größeres als Sie.«
    »Sechs Jahre lang wollten Sie sie doch nicht einmal kennenlernen«, erwiderte Lennon. Im nächsten Moment zuckte er zusammen.
    »Sie doch auch nicht«, erklärte sie.
    Lennon unterdrückte seine Wut. »Jedenfalls, es geht ihr gut. Sie ist im Bett.«
    »Hat sie immer noch diese Träume?«
    »Manchmal.«
    Bernie schluckte hörbar. »Als ich die arme Kreatur das letzte Mal sah, sah sie aus wie ein
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