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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel
Autoren: Stuart Neville
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Regionalmeisterschaften zu gewinnen war. Mama stellte sie allesamt in dem alten Porzellanschrank aus, den sie vor vierzig Jahren von ihrer eigenen Großmutter geerbt hatte.
    Als dann im Teenageralter ihre Gliedmaßen länger wurden, entdeckte sie als ihre Lieblingsdisziplin die fünftausend Meter. Mit vierzehn trainierte sie dreimal am Tag und kam Stück für Stück ihrem Ziel näher, die Distanz in fünfzehn Minuten zu bewältigen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie früh am Morgen in der Kälte die Haustür ihrer Mama hinter sich zuzog, zur Laufbahn im Dorf trabte und dann lauschte, wie die Welt um sie herum erwachte, während sie Runde um Runde abriss.
    Der Trainer hatte sie für die Sportschule vorschlagen wollen und prophezeit, die Aufnahmeprüfungen werde sie mit Leichtigkeit bestehen, vielleicht werde man sie sogar für die Olympiamannschaft aufbauen. Aber das hätte bedeutet, wegzuziehen und Mama allein die paar Morgen Land bestellen zu lassen, die ihr selbst gehörten. Also lehnte Galya die Chance ab und lief nur noch für das Vergnügen eines rasenden Herzens.
    Jetzt rannte sie um ihr Leben.
    Ihre Arme ruderten wie wild. Eisiger Teer nagte an ihren nackten Fußballen. Gierig sogen ihre Lungen die kalte Luft ein.
    Bevor die Männer bemerkten, dass sie weg war, hatte sie schon zwanzig Meter Vorsprung. Sam war bei dem panischen Versuch, sie zu erwischen, über den Toten gestolpert. Sie hörte, wie er hinschlug und vor Schmerzen aufschrie. Damit blieb nur noch Darius als Verfolger, der mit schweren Tritten seinen massigen Körper in Bewegung setzte.
    Ob sie Waffen hatten? Galya glaubte es nicht, denn sonst hätte sie es vermutlich inzwischen knallen gehört und gespürt, wie ihr die Kugeln in den Rücken schlugen.
    Weiter vorne sah sie ein offenes Tor, dahinter ein Dock. Hinter ihr rennende Füße, schwerfällig und unfähig, die Lücke zu schließen. Galya sah sich nicht um. Wenn sie das tat, würde sie ihren gleichmäßigen Rhythmus verlieren, und sie wusste, dass das beim Laufen das Entscheidende war. Ein gleichmäßiger Rhythmus garantierte Schnelligkeit und ein Minimum an Erschöpfung. Wenn sie den verlor, würde sie gegenüber den anderen an Boden verlieren. Und wenn sie an Boden verlor, würde sie sterben.
    Atmen.
    Rein, zwei, drei, vier, raus, zwei, drei, vier …
    Sie hörte Darius’ keuchende Atemstöße. Er war kein Sprinter, aber Ausdauer hatte er auch nicht. Nicht so wie Galya. Wenn sie sich lange genug vor ihm halten konnte, außerhalb seiner Reichweite, dann würden seine Beine nachgeben und die Muskeln zu sehr nach Sauerstoff lechzen, als dass sie ihn noch weitertrugen.
    Rein, zwei, drei, vier, raus, zwei, drei, vier …
    Galya hörte ihn aufschreien, er sammelte seine letzten Kraftreserven. Aber sie hatte mehr. Trotz der Schmerzen vom Salz auf der Straße, das ihr die Haut von den Füßen riss, holte sie alles aus sich heraus. Er war näher gekommen, holte trotz seines verzweifelten Japsens auf. Wieder kam er aus dem Tritt und brüllte auf.
    Rein, zwei, drei, vier, raus, zwei, drei, vier …
    Gerade noch rechtzeitig sah sie das Eis, verlängerte ihrenSchritt und sprang locker darüber hinweg. Darius nicht. Sie hörte, wie er ausrutschte, dann das nasse Klatschen seines Körpers auf der harten Erde und schließlich sein Keuchen, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde.
    Ächzend und keuchend rappelte sich der Litauer hinter ihr wieder hoch. Er war groß und kräftig, aber schwerfällig. Davonlaufen konnte sie ihm, daran bestand kein Zweifel, aber der Schmerz zerrte an ihren Fußgelenken, und die eiskalte Luft brannte in ihren Lungen.
    Rein, zwei, drei …
    Es war zu kalt. Galya konnte die Luft nicht länger anhalten. Sie war aus dem Takt.
    Raus, zwei, drei …
    Ihr Atem pfiff durch die zusammengebissenen Zähne, sie verlor ihren Rhythmus. Sie befahl ihrem Kopf, sich zu konzentrieren, ihrem Körper zu gehorchen, aber der Schmerz wollte nicht in den Füßen bleiben. Er kroch die Gelenke und Waden hoch, machte ihre Schritte kürzer und ihre Schnelligkeit zunichte.
    Die stampfenden Schritte des Litauers kamen näher. Er hechelte und keuchte, aber er hielt sein Tempo.
    Das offene Tor war nur noch wenige Meter weit weg. Auf dem Gelände dahinter konnte sie die Lichter der Stadt und davor die Silhouette einiger großer, schwarzer Hügel erkennen. Kohle vielleicht oder Schotter, daneben hoch aufragende Maschinen und niedrige Schuppen. Gute Verstecke, falls sie es bis dorthin schaffte.
    Aber
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