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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel
Autoren: Stuart Neville
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da waren die Schmerzen und die Kälte. Sie stachen auf ihre Beine ein und legten sich um ihre Brust.
    Der Litauer kam immer näher, so nahe, dass er sie schon berühren konnte, wenn er den Arm ausstreckte.
    Galya rannte weiter und betete.
    Mama, hilf mir, hilf mir, mach mich schneller, lass mich …
    Blendendes Licht, ein kreischendes Geräusch und ein Schrei.
    Das Auto, ein großer Wagen mit Allradantrieb, schoss aus einer Seitenstraße. Galya spürte den Luftzug, als es sie verfehlte und den Litauer anfuhr. Sie hörte, wie er hart auf die Erde schlug.
    Eine Tür ging auf, eine Stimme rief: »Stehen bleiben!«
    Galya rannte weiter, obwohl aus ihren langen Sätzen inzwischen ein unkoordiniertes Taumeln geworden war.
    »Stehen bleiben!«, rief die Stimme wieder. »Polizei!«
    Galya wurde langsamer und riskierte einen Blick über die Schulter.
    Der Wagen hatte farbige Markierungen, an der Seite prangte die Aufschrift: HAFENPOLIZEI. Galya blieb stehen. Konfusion vermischte sich mit ihrer Panik.
    »Keine Bewegung«, rief der Polizist. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Mann zu, der ausgestreckt vor dem Wagen lag. Dann sprach er in ein Funkgerät: »Bobby, wir brauchen hier einen Krankenwagen.«
    Als Antwort kam ein Knistern aus dem Funkgerät.
    »Weil ich gerade jemanden angefahren habe.«
    Eine längere Salve statischen Rauschens.
    »Weiß nicht. Er lebt noch. Jedenfalls bewegt er sich. Ecke Dufferin und Barnet Road.«
    Galya kämpfte gegen die Adrenalinschübe an und zwang sich, reglos stehen zu bleiben und abzuwarten.
    Der Polizist bemerkte den Wagen am Wasser, das in Plastik gewickelte Bündel am Kai. Erneut sprach er in sein Funkgerät. »Schick besser auch noch ein paar Jungs von der PSNI.«
    Ein weiteres Knistern.
    »Das werde ich gleich rausfinden. Aber was immer es auch ist, gut sieht es jedenfalls nicht aus.«
    Er wandte sich wieder an Galya. »Also, Schätzchen, was ist hier los?«
    Sie machte den Mund auf und wollte schon antworten, aberdann fiel ihr ein, was man ihr über die Polizei in diesem Land erzählt hatte. Die Kolonnenführer auf der Farm und die Arbeiter wussten noch die Geschichten, die sie von anderen gehört hatten. Die Polizei hasste Einwanderer, verhaftete und schlug sie. Wer Glück hatte, wurde aus dem Land geworfen. Die anderen kamen jahrelang in irgendwelche tristen Gefängnisse, einer Staatsgewalt ausgeliefert, die sie in den nasskalten Eingeweiden ihrer Haftanstalten verrotten ließ.
    Galya schaute an sich herab und sah, dass Blut ihre Kleider durchtränkt hatte und an ihren Händen klebte. Vor nicht einmal einer Stunde hatte sie einen Mann getötet. Wenn die Polizei sie erwischte, würde man sie für eine Mörderin halten. Wurden Mörder hierzulande immer noch aufgehängt? Galya machte einen Schritt zurück.
    Der Polizist streckte eine Hand nach ihr aus. »Hör mal, Schätzchen, keiner tut dir was. Bleib einfach nur …«
    Ein Motor heulte auf. Der Mann drehte sich um und sah, wie der alte BMW auf ihn zugeschossen kam.
    Darius rappelte sich auf die Knie hoch.
    »Was zum Teufel ist hier los?«, fragte der Polizist noch. Er griff nach der Pistole an seiner Hüfte, aber Darius hielt sein Handgelenk fest. Ohne den Polizisten aus den Augen zu lassen, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
    Galya rannte wieder los.

6
    Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde Lennon kurz vor dem Einnicken vom schrillen Klingeln des Telefons aufgeschreckt. Frierend ruckte er in seinem dunklen Büro hoch und tastete nach dem Telefon.
    »Ja?«
    »Anruf von Sergeant Connolly«, meldete sich der Diensthabende. »Hört sich nicht gut an.«
    »Herrgott noch mal«, fluchte Lennon und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Na schön, stellen Sie ihn durch.«
    Lennon hörte es zuerst klicken und piepsen, während der Anruf von einer Leitung zur nächsten sprang, und erst dann Connollys keuchenden Atem. Offenbar machte dem Mann die Kälte zu schaffen. Connolly war ein guter Beamter, noch jung genug, um sich daran zu erinnern, warum er zur Polizei gegangen war, und doch schon alt genug, um sich über die Realität seines Jobs keine Illusionen mehr zu machen. Schneller als die meisten anderen war er zum Sergeant befördert worden und liebäugelte mit dem Posten eines Detectives. Früher oder später würde er ihn auch bekommen, schätzte Lennon, aber fürs Erste musste er noch weiter Streife fahren.
    »Schießen Sie los«, sagte Lennon. Er wusste, dass Connolly ihm nur die nüchternen Fakten schildern würde, ohne
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