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Rachedurst

Rachedurst

Titel: Rachedurst
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hielten sich dort zurzeit anscheinend keine Jäger auf. Seit dem Winter war es sein erster Vorstoß in die waldigen Hänge im Südwesten gewesen. Der Schnee zog sich in die Berge zurück und hinterließ nur in den Flussbetten und Geländeeinschnitten verharschte Reste. Mit der Schneeschmelze kamen auch die Überbleibsel kleiner Kämpfe und Tragödien ans Licht, die sich den Winter über unbeobachtet zugetragen hatten: sechs Maultierhirsche, die in einer waldigen Senke verhungert waren; eine Wapitikuh, die mit ihrem Kalb durchs Eis eines Teichs gebrochen und an Ort und Stelle festgefroren war; Pronghorn-Antilopen, die sich in einem Zaun verfangen hatten und deren ausgemergelte Leiber überm Stacheldraht hingen wie trocknende Putzlumpen. Doch es gab auch Anzeichen des Wiedererwachens und der Erneuerung: Dicke, hellgrüne Triebe drangen durchs welke, verfilzte Gras an den Ufern, und aus dem dunklen Gehölz blickten schwere, trächtige Hirschkühe dem vorbeifahrenden Pick-up hinterher.
    Was die Arbeit im Gelände anging, war der April für Jagdaufseher der ereignisärmste Monat im Jahr, und das galt besonders hier, wo der Frühling kurzlebig war. Es war das fünfte Dürrejahr in Folge. Die dringlichste Angelegenheit, um die er sich zu kümmern hatte, waren die vier Wapitis, die in Saddlestring aufgetaucht waren und offenbar nicht vorhatten, wieder zu verschwinden. Maultierhirsche drangen öfter mal in Parks und Gärten vor, aber für Wapitis war es ungewöhnlich. Joe hatte mehrmals mit kleinkalibrigen Platzpatronen in die Luft geschossen, um die beiden Bullen, die Kuh und das Kalb aus dem Stadtpark zu vertreiben, doch die Tiere waren stets zurückgekehrt und so sehr zum Inventar des Parks geworden, dass sie nun »Stadtwapitis« hießen und von den Bewohnern gefüttert wurden. Das hielt sie natürlich erst recht davon ab, den Park wieder zu verlassen, und so zutraulich wie sie inzwischen waren, würden sie irgendwann etwas fressen, woran sie erkranken und sterben würden. Joe wollte die Wapitis nicht töten, wäre dazu aber womöglich gezwungen, falls sie nicht endlich weiterzögen.
    Die Veränderungen in seiner Behörde hatten mit der Wahl eines neuen Gouverneurs begonnen. Am Tag darauf hatte Joe eine Nachricht von seinem Vorgesetzten Trey Crump bekommen, die aus den folgenden vier Worten bestand: »Die Hölle ist zugefroren.« Das Unmögliche war geschehen, ein Demokrat war Gouverneur geworden. Sein Name war Spencer Rulon. Binnen einer Woche trat der Direktor der Behörde zurück, um seiner Entlassung zuvorzukommen, und um seine Nachfolge tobte ein erbitterter Kampf. Wie die meisten Jagdaufseher unterstützte Joe die Forderung: »Egal wer, nur nicht Randy Pope«, da der sich bei den Bürokraten der Behörde Renommee erworben hatte (nicht aber bei Biologen und Ordnungshütern) und keinen Hehl daraus machte, Mitarbeiter loswerden zu wollen, von denen er fand, sie seien zu unabhängig, mit den Einheimischen verbündet oder unkontrollierbare Cowboys – Männer wie Joe Pickett also. Dessen Streit mit Pope ein Jahr zuvor in Jackson hatte sich zu einem schwelenden Kleinkrieg entwickelt, der immer hitziger wurde, seit Joes Bericht über Popes Betrug in der Behörde die Runde machte und Pope sich vergeblich mühte, dies zu unterbinden.
    Gouverneur Rulon war ein fülliger Mann mit rundem Gesicht und dickem Bauch, widerspenstigem braunem Haar, das schon ins Graue spielte, einem stets etwas schiefen Lächeln und ungemein stechenden Augen. Bei der Wahl im Vorjahr hatte er seinen Gegner von den Republikanern mit zwanzig Prozent Vorsprung geschlagen, obwohl der von seinem Vorgänger, dem nicht mehr zur Wiederwahl zugelassenen Gouverneur Budd, sorgfältig aufgebaut worden war. Und das in einem Staat, dessen Bevölkerung sonst zu siebzig Prozent für die Republikaner stimmte! Rulon war auf einer Ranch bei Casper aufgewachsen und Enkel eines US -Senators. Er hatte beim Football-Club Wyoming Cowboys als Verteidiger gespielt, Jura studiert, mit seiner Kanzlei durch Klagen gegen Bundesbehörden ein Vermögen verdient und war dann zum Bezirksstaatsanwalt gewählt worden. Laut, ja lärmend hatte Rulon sich um das Amt des Gouverneurs beworben, Wyoming im eigenen Pick-up endlos kreuz und quer bereist, in allen Bars zwischen Yoder und Wright Lokalrunden geworfen und jeden, der ihn nicht wählen wollte,
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