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Raban, der Held

Raban, der Held

Titel: Raban, der Held
Autoren: Joachim Masannek
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So wie am Tag vor Heiligabend, als ich trotz Tauwetter zum Weihnachtsrodeln erschienen war?
    Hottentottenalptraumnacht, und das am helllichten Tag! Für einen Moment wollte ich nach Hause zurück und mich bei meiner Mutter für mein unerlaubtes Verschwinden entschuldigen. Statt ins 60er-Stadion zu gehen, würde ich dann mit ihr den Abend verbringen, und statt vom Fußballorakel meine Zukunft zu erfahren, würde ich mit ihr Bleigießen veranstalten. Meine Mutter hasste Raketen, und das war das Einzige, wozu sie sich an Silvester breitschlagen ließ.
    Doch dann biss ich die Zähne zusammen und nahm mein kleines Herz in die Hand. Beim Fußballderwisch von Ostokinawa! Was hatte ich schon zu verlieren? Also lief ich weiter kreuz und quer durch die Stadt, und während ich lief, begannen die Träume:

    Mindestens hundertmal saß ich in ihnen im Stadion und sah zu, wie das Flutlicht anging. Dann kamen die Fußball-Legenden und spielten mit mir. Am Anfang war ich noch schüchtern, doch dann wuchs ich buchstäblich über mich hinaus. Ich wurde der beste Stürmer der Welt. Zielstrebiger als Deniz, die Lokomotive, schneller als Fabi, der schnellste Rechtsaußen der Welt, wilder als Leon, der Slalomdribbler, und trickreicher als Rocce, der Zauberer. Ja, hundertmal führte ich mein Team zum Sieg, und dann kam der Urteilsspruch. Die Fußball-Legenden bildeten einen Kreis und stellten mich in die Mitte. Eine Ewigkeit schauten sie mich nur an. Aber dann lächelten sie. Das Lächeln wurde zum Lachen, und dann sagten sie mir, ich würde der größte Fußballstar werden, den es je gab!
    Ja, und dann, wenn ich ausgeträumt hatte, ging ich mit stolz erhobenem Haupt durch die Stadt. Ich wartete immer solange, bis jemand auf mich aufmerksam wurde, und im selben Moment warf ich einen Stein hoch in die Luft. Ihn wollte ich kicken und der Jemand sollte das unbedingt sehen. Er sollte den Hackenkick bewundern, den Volleyschuss oder das Jonglieren mit dem Knie. Ja, das sollte er, und wenn mir der Trick dann misslang, was in hundert Prozent der Fälle passierte, drehte ich mich blitzschnell um, änderte meine Richtung, und begann wieder von neuem zu träumen.
    So verging die Zeit wie im Flug. Bald wurde es Mittag. Dann wurde es Nacht, und als es neun Uhr war, brach ich zum Stadion auf. Schon von weitem sah ich die seit Jahren erloschene Flutlichtanlage, und kaum konnte ich das Tribünendach über den Dächern der Häuser erkennen, da begann ich schon wieder zu träumen. Doch dieses Mal brach mein Traum kurz vor dem Urteilsspruch ab. Es war mein sechster Sinn, oder der Schatten, der sich in meinen Augenwinkeln bewegte. Auf jeden Fall wachte ich auf und konnte mich gerade noch rechtzeitig verstecken.
    Vor dem Eingang zum Stadion stand doch, und ich hatte es ja eigentlich nicht anders erwartet, niemand anderes als meine Mutter.
    „Allmächtiger Fettnäpfchenflaschengeist!“, fluchte ich. „Das war absolut haaresbreitenscharf knapp!“
    Dann schlich ich im Schatten der Häuser an meiner Mutter vorbei, fand abseits ein Loch im Maschendrahtzaun und robbte ins Stadion rein.

Der Schwindel fliegt auf
    Um zehn Uhr betrat ich den Rasen, der inzwischen fast kniehoch im Stadion wuchs, und genauso hoch schossen jetzt meine Zweifel überall um mich herum aus dem Boden. Hatte Willi wirklich die Wahrheit gesagt? Hatte er selbst vor 24 Jahren hier alleine gestanden? Wenn ja, dann hatte man den Rasen seit dieser Zeit nicht mehr gemäht. Ja, und dann lag es auch klipp und klar auf der Hand, so klipp und klar wie doppelseitig benutztes Klopapier: Heute würde niemand mehr kommen, um hier Fußball zu spielen.
    „Pechschwefliges Rübenkraut!“, fluchte ich, und dann erhielt ich ein Echo von der Tribüne zurück.
    „Pechschwefliges Rübenkraut!“, kicherte es. „Das ist gut!“
    „Ja, versuch’s doch mal mit ,Abrakadabra’!“
    „Oder ,Heiliger Muckefuck!’ Das ist auch nicht so schlecht!“
    Ich fuhr herum, und dann sah ich sie alle da sitzen: Leon, Fabi, Marlon und Rocce, Maxi, Juli, Joschka, Vanessa, Deniz, Markus und Jojo. Ja, selbst Felix war da, obwohl nur halbwegs gesund. Sie waren alle gekommen. Sehr wahrscheinlich aus demselben Grunde wie ich: Wenn es das Fußballorakel tatsächlich gab, wollte es keiner verpassen. Nur hatten sie es heimlich gemacht und mussten sich jetzt nicht wie ich schämen. Nein, sie konnten mich sogar verspotten, und das taten sie jetzt.
    „Hey, Ra-haban“, rief Deniz. „Was hältst du davon, wenn wir
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