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Raban, der Held

Raban, der Held

Titel: Raban, der Held
Autoren: Joachim Masannek
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„Diese Karte berechtigt Sie exklusiv und persönlich, jedes Heimspiel der Wilden Fußballkerle zu sehen. Ihr Platz befindet sich direkt neben dem Kiosk unter dem Regenschirm. Und Sie bekommen eine Apfelsaftschorle und eine Bockwurst mit Senf und Semmel umsonst.“

    Das war’s. Der Tag ging vorbei, doch die, die ihm folgten, streckten sich immer mehr in die Länge.
    Am Anfang hatte ich wenigsten einen einzigen Trost. Die drei Töchter der Freundinnen meiner Mutter, Cynthia, Marie-Claire-Beatrice und Hannelörchen, hatten sich zum Skiurlaub in die Berge verkrochen. Sie konnten mich deshalb nicht quälen. Doch spätestens am vierten Tag, drei Tage vor Silvester, schlug dieser angebliche Vorteil in einen Nachteil um. Die drei rüschenbewehrten Monster hätten mich ablenken können. Doch ohne sie hielt ich es vor Einsamkeit nicht länger aus, und einen Tag vor Silvester preschte ich aus dem Haus, um einen Wilden Kerl nach dem anderen zu besuchen.
    Ich konnte nicht anders. Ich musste ihnen einfach erzählen, was in der nächsten Nacht im alten 60er Stadion an der Grünwalder Straße laut Willi passiert. Vielleicht würden sie es ja glauben, und dann glaubte ich es am Ende auch. Morgen Nacht hatten wir alle die Chance zu erfahren, was aus uns wird.
    Punkt Mitternacht würde das Flutlicht angehen. Die Geister der größten deutschen Fußball-Legenden würden erscheinen und mit einem spielen. Und danach sagten sie einem, ob man es schafft. Ob man das Zeug dazu hat, ein Fußballprofi zu werden.
    Doch egal zu wem ich auch kam, ob zu Leon und Marlon, zu Fabi, Rocce oder Vanessa, keiner von ihnen glaubte mir auch nur ein Wort. Selbst Joschka schaute mich an, als würde ich in meinem Spiderman-Schlafanzug vor ihm sitzen und ihm erklären, dass man Fußball auf Schlittschuhen im Swimmingpool spielt.
    Es war aussichtslos. Ich konnte keinen von ihnen überzeugen, und am Ende kehrte ich noch einsamer und trauriger nach Hause zurück. Doch diese Traurigkeit und Einsamkeit weckte auch meinen Trotz. Aus Trotz allein schon wollte ich es ihnen beweisen, dass es das Fußballorakel in der Silvesternacht wirklich gab. Sie würden es schon noch bereuen, wenn ich ihnen davon erzählte. 24 Jahre lang würden sie es bereuen und mich beneiden, und mit diesem Trotz im Rücken wagte ich mich an das letzte Hindernis.
    „Du, Mama!“, brach ich das Schweigen beim Frühstück am nächsten Morgen. „Ich glaube, ich werde heute mit dir nicht Silvester feiern.“
    Meine Mutter schaute über ihre Zeitung hinweg und runzelte ihre Stirn. Ich saß in kompletter Fußballmontur vor ihr und rührte mein Essen nicht an. So aufgeregt war ich schon.
    „Ich gehe heute Nacht ins alte 60er-Stadion, um die Fußballgeister zu treffen.“
    Jetzt faltete meine Mutter die Zeitung zusammen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
    „Das passiert nur alle 24 Jahre einmal, und ich werde nicht auf das nächste Mal warten. Die veranstalten nämlich ein echtes Orakel und sagen mir dann, was aus mir wird.“
    Jetzt war es heraus, und was das bedeutete, sah ich an dem seltsamen Zucken der Nasenflügel in Mamas Gesicht.
    „Das wirst du nicht tun!“, sagte sie mit einer Wut, die, obwohl sie ganz leise sprach, alle Träume blitzschnell zerstörte.
    Mehr sagte sie nicht. Mehr musste sie auch gar nicht mehr sagen. Ja, und deshalb nahm sie die Zeitung wieder vom Tisch, entfaltete sie und las weiter, als wäre überhaupt nichts passiert. Doch als es neun Uhr schlug und sie sich wie jeden Morgen erhob, um in ihr Arbeitszimmer zu gehen, war ich schon lange verschwunden.

Die Nacht der Nächte
    Ich lief aus dem Haus und rannte ziellos und wild durch die Straßen. Ich rannte und rannte, bis ich nicht mehr konnte. Erst dann blieb ich stehen und fühlte mich wie der größte Idiot auf der Welt. Was nutzte das Weglaufen überhaupt, wenn meine Mutter ganz genau wusste, wann und wo sich mich finden würde? Sie musste nur vor dem Stadion warten, bis ich auftauchen würde und mich nach Hause verfrachten. Es war gerade erst neun Uhr am Morgen. Was sollte ich bloß die nächsten 15 Stunden bis Mitternacht tun? Zu meinen Freunde konnte ich nicht. Sie hielten mich für verrückt. Und als ich zum Kiosk ging, um bei Willi zu warten, fand ich diesen nicht vor. Kiosk und Wohnwagen waren verschlossen, und das Mofa war weg. Was hatte das zu bedeuten? Ging er mir absichtlich aus dem Weg? War die Geschichte mit dem Orakel doch nur erfunden? Machte ich mich gerade wieder einmal absolut lächerlich?
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