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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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1913 einige Umwege, ja Kehrtwendungen, und er endet im April mit der Korrektur der Druckfahnen. Im Typoskript beginnt der getippte Text mit einer Anspielung auf den Vormittag mit der Mutter, den Proust im
Contre Sainte-Beuve
erzählen wollte. Dann folgen das frühe Zubettgehen, das augenblickliche Einschlafen und das Wiedererwachen, wobei die vor dem Einschlafen gelesene Zeitung dem Wiedererwachten noch in der Hand liegt, schließlich das Bestreben, sich in Raum und Zeit zurechtzufinden. Doch die Anspielung auf den Vormittag mit der Mutter ist gestrichen und handschriftlich zuerst durch die Anspielung auf einen Aufenthalt in einem Sanatorium ersetzt. Auch diese Version ist durchgestrichen, und es beginnt nun mit »Longtemps, je me suis couché de bonne heure«. Dieses Incipit figuriert auch in dem beim Autor verbliebenen Exemplar des Typoskripts. In diesem macht sich Proust daran, den gesamten Anfang zu verändern. Ausgehend von dem noch ganz an das Szenario des
Contre Sainte-Beuve
erinnernden Zeitungsmotiv fügt er nun in die den Roman eröffnende Einschlaf- und Aufwach- eine Lektüreszene ein. Mit blauem, beinahe völlig verblichenem Farbstift schreibt er am linken Rand des Dokuments: »im Schlaf hatte ich weiter über das Gelesene nachgedacht, über das Alter gewisser Statuen, aber«; dann greift er zur Feder und erzählt, wobei er immer wieder streicht und neu ansetzt, wie sich der eben Eingeschlafene mit dem Lesestoff identifiziert: »mir war, als sei ich selbst das Datum dieser Statuen« und wie er sich beim Erwachen von diesem Glauben befreit: »das Alter der Statuen entfernte sich von mir wie eine Idee, mit der ich frei war, mich zu befassen oder nicht; dann hörte ich auf zu glauben, sie sei ich; alsbald gewann ich mein Sehvermögen zurück: meine Augen erkannten, dass es um mich herum dunkel war«. Während die Zusätze im Typoskript deutlich als Entwurf zu erkennen sind, präsentiert sich die folgende Version, jene des angesengten Blattes, zumindest zu Beginn als Reinschrift, als ein Dokument, das in Form eines Klebezettels die kommenden Druckfahnen ergänzen sollte. Dann aber füllen sich die Zwischenräume mit Korrekturen und Ergänzungen, und am Ende ist auch der für den Leim vorgesehene Streifen vollgeschrieben. Doch was ist neu auf diesem Zettel? Zunächst – glücklicherweise nur provisorisch – der Anfang. Anstelle von »Longtemps, je me suis couché de bonne heure« liest man »Pendant bien des années, le soir, quand je venais de me coucher […]« (Während vieler Jahre, wenn ich abends zu Bett gegangen war). Die Zeitung ist immer noch da, doch als Lesestoff, mit dem sich der Eingeschlafene identifiziert, wählt Proust jetzt nicht mehr die für einen Zeitungsartikel etwas unwahrscheinliche Datierung alter Statuen, sondern eine neue Sinfonie und die Abgeordneten, die gegen die Regierung für eine Rentenkürzung gestimmt hatten, was aus heutiger Sicht auch eher unwahrscheinlich anmutet. Die weitere Arbeit an der Eingangsszene erfolgt im April auf den Druckfahnen.
    Ein Telegramm
    Am 27 . März schickt Proust seinem Chauffeur Odilon Albaret aus Anlass von dessen Vermählung mit Céleste Gineste in Auxillac folgendes Telegramm:
    Céleste und Odilon Albaret
    »Herzliche Gratulationen, ich schreibe nicht länger, weil ich an Grippe erkrankt und müde bin, doch wünsche ich Ihnen und den Ihren von ganzem Herzen viel Glück. Marcel Proust« ( XII , 117 ) Dabei kann er nicht ahnen, welche Rolle die Braut in seinem Leben noch spielen wird, und sogar in einem Glückwunschtelegramm kann er nicht auf das Leitmotiv seiner Briefe verzichten, nämlich: Er sei so krank und müde, dass er nicht länger schreiben könne.

April
    Erste Druckfahnen
    Die ersten Druckfahnen von Prousts Roman tragen den Stempel vom 31 . März 1913 . Es ist anzunehmen, dass sie dem Autor sogleich überbracht werden, und zwar in drei Exemplaren: Das erste dient als Entwurf, das zweite als Reinschrift, das dritte als Reserve. Auch ist anzunehmen, dass Proust sogleich mit der Durchsicht beginnt.
    Placard 1
    Als Erstes korrigiert er wohl den Titel des ersten Teils: Das an Fénelon, den »cygne de Cambrai«, gemahnende Cambray wird wieder (wie im Typoskript) zu dem auf Chateaubriands Combourg anspielenden Combray. Doch dann greift Proust auf das im März vorbereitete Material zurück und überarbeitet die Eingangsszene. Er streicht eineinhalb Zeilen und beginnt, den Text des angesengten Zettels zu übertragen: »Pendant bien des
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