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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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konfrontiert sieht.
    Vington + Berget = Vinteuil
    Seit einiger Zeit schon arbeitet Proust daran, der von Swann erst geliebten, dann gefürchteten Geigensonate Bergets ein Kammermusikwerk desselben Komponisten gegenüberzustellen. Das Konzert, in dem Enesco Francks Geigensonate spielte, gibt dieser Arbeit neue Impulse. Proust entdeckt in Franck, den er bisher kaum erwähnte, den genialen Komponisten, auf den er von nun an in Briefen und Entwürfen immer wieder zu sprechen kommt. Von einem spät, ja erst nach seinem Tod erkannten Genie ist auch im Typoskript von 1912 die Rede, nämlich von einem Naturwissenschaftler namens Vington, der zurückgezogen in der Nähe von Combray wohnt und vor Kummer über die lesbische Beziehung seiner Tochter mit einer Freundin stirbt. Erst die aufopfernde Entzifferungsarbeit der Freundin von Vingtons Tochter bringt nach dem Tod des Naturwissenschaftlers sein geniales Werk zutage. Zu einem nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt beschließt nun Proust, die beiden Personen – den Naturwissenschaftler Vington und den Komponisten Berget – übereinanderzulegen. Spuren davon finden sich zuerst im
Carnet 2 ,
dann auf den Druckfahnen. Der Naturwissenschaftler und der Name Berget verschwinden; es bleibt ein zuerst Vington, dann Vindeuil, schließlich Vinteuil genannter Komponist. So begegnet Swann in Combray einem unglücklichen alten Musiklehrer und später in Paris der Sonate eines genialen Komponisten, um dann zu erfahren, dass es sich bei dem alten Musiklehrer und dem genialen Komponisten um ein und dieselbe Person handelt. Damit nimmt Proust die gegen Sainte-Beuve aufgestellte These wieder auf: Was zählt, ist nicht der Blick auf die Person, sondern der Blick auf das Werk. Doch diesmal formuliert Proust sie nicht als These, sondern zeigt sie in der Handlung seines Romans. In der Figur Vinteuils verbinden sich nicht nur zwei divergierende Perspektiven und zwei Momente im Leben Swanns, sondern auch zwei Orte der
Recherche:
Combray und Paris.
    Möglicherweise als Reaktion auf Sainte-Beuves Kritik an dem Balzac’schen »retour des personnages«, dem Auftritt ein und derselben Figur in mehreren Romanen, gelang Proust schon vier Jahre früher (gegen Sainte-Beuve) eine ähnlich kunstvolle Operation. In den Entwürfen von 1908 / 09 ist einerseits von Combray und den Gegenden von Méséglise und Villebon sowie von den Schlossherren von Villebon die Rede, andererseits von Paris und einer adligen Dame, die im selben Gebäudekomplex wie der Protagonist wohnt und der Familie der Guermantes angehört. Die – man darf schon sagen – geniale Operation, in der Proust im Frühjahr 1909  Villebon durch Guermantes ersetzt und so Combray und Paris miteinander verbindet, kann als Geburtsstunde der
Recherche
gelten.
    Als nach dem Erscheinen von
Du côté de chez Swann
verschiedene Kritiker, z.B. Francis Chevassu in
Le Figaro
vom 8 . Dezember 1913 , schrieben, es fehle dem Werk an Komposition, wehrt sich Proust noch am selben Tag in einem Brief an André Beaunier, der Prousts Ruskin-Übersetzungen in
Le Figaro
sehr positiv rezensiert hatte und von dem Proust jetzt ein ebenso positives Echo auf
Swann
erwartet: »Wie man von einem genialen Komponisten sagt, ›wissen Sie, daneben ist er ein Mann voller Vorurteile, ein alter Trottel‹, dabei aber die vorgängige Idee vom Genie im Kopf behält und so die Vorurteile und Lächerlichkeiten auflöst, sich also den genialen Mann nicht lächerlich vorstellt, so habe ich im ersten Kapitel einen alten Mann auftreten lassen, der lächerliches Zeug zum besten gibt und von dem niemand glauben würde, er komponiere. Im zweiten Teil dann zeigt sich, dass eine sublime Sonate, die im Leben Swanns eine große Rolle spielt, von diesem Mann stammt, den man umso lächerlicher fand, als man zuvor nicht wusste, er sei ein Genie. Und das alles soll nicht Komposition sein.« ( XII , 367 )
    Proust rechnet
    Schon im März, als er das bei ihm verbliebene Typoskript überarbeitet, ahnt Proust, dass sich Streichungen und Zusätze nicht die Waage halten. Bei der Korrektur der Druckfahnen wird diese Ahnung zur Gewissheit. Am 12 . April schreibt er an Jean-Louis Vaudoyer: »Ich bin daran, meine ersten Druckfahnen zu korrigieren. Jeden Tag erhalte ich neue, habe aber noch keine zurückgeschickt. Erste, nicht so wichtige Frage: Kann ich so weitermachen und sie erst zurückschicken, wenn ich den ganzen Band korrigiert habe; oder in Paketen zu wie viel muss ich sie
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