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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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erfüllen, tun Sie für mich etwas Wertvolles, umso mehr als mein Gesundheitszustand mir nicht erlaubt, mich darum zu kümmern.« ( XII , 80 ) Am 26 . Februar, zwei Tage nachdem Proust Grasset das Typoskript seines Romans hat überbringen lassen, erfüllt sich ein weiterer Wunsch: Zusammen mit Georges de Lauris besucht Proust in der Salle Pleyel ein Konzert, in dem das Capet-Quartett die Beethoven-Quartette  XV und XVI sowie die große Fuge zur Aufführung bringt. Lauris berichtet, Proust habe nach dem Konzert Capet seine Eindrücke geschildert.

März
    Der Monat März steht ganz im Zeichen des nun endlich gefundenen Verlegers und des nun endlich materielle Gestalt annehmenden Werks. Proust kümmert sich um alles: Vertrag, Erscheinungsdatum, Umfang, Papier, Schriftgröße, Satzspiegel, Preis. Er berät sich mit Freunden und Bekannten (Louis de Robert, Léon Blum, Jean-Louis Vaudoyer), und zwischen Proust und Grasset herrscht ein reger Briefwechsel. Dabei verschweigt Proust dem Verleger nicht, dass es noch einige Zusätze geben könnte. Um zu erklären, weshalb er vorschlägt, eine Zeile mehr pro Seite zu setzen, schreibt er am 11 . März in einem Postskriptum: »Ich habe deshalb eine Zeile mehr pro Seite vorgeschlagen, weil ich beim Korrigieren der Fahnen, besonders jener des Anfangs, möglicherweise gewisse Änderungen anbringe, die den Text leicht verlängern.« ( XII , 102 ) Tatsächlich hat Proust in der Zwischenzeit nicht nur an weiteren Teilen seines Romans gearbeitet, sondern auch in dem bei ihm verbliebenen Typoskript, in Entwurfheften und auf fliegenden Blättern Zusätze notiert, um sie später in die Druckfahnen zu übertragen. Wie in dem zitierten Postskriptum angedeutet, bildet dabei der Anfang einen neuralgischen Punkt.
    Ein angesengtes Fetzchen Papier
    Proust lebt gefährlich. Nicht nur kennt er kein Maß beim Konsum von Drogen und Medikamenten, in einer mit Legras-Puder bestückten Räucherpfanne unterhält er auch ein Feuerchen, das sein Zimmer einnebeln, seine Atemwege beruhigen und Besucher fernhalten soll. Gleichzeitig schwimmt er in einem Meer von Papier: Hefte, Typoskripte, herausgerissene Seiten, lose Zettel – all das, was Françoise in der
Recherche
einmal »les paperoles de Monsieur«, die »Zettelwirtschaft des jungen Herrn« (
Die wiedergefundene Zeit,
321 ), nennt. Da kann es leicht passieren, dass Papier und Räucherpfanne einander zu nahe kommen und das Papier vielleicht nicht gerade Feuer fängt, aber zumindest angesengt wird. Das muss mit einem aus einem Heft oder einem Block herausgerissenen Blatt geschehen sein, dem außerdem die beiden unteren Ecken fehlen. Dieses Papierfetzchen nun nimmt Proust eines Nachts im März (so nehmen wir an) zur Hand, faltet einen Rand, offenbar in der Absicht, es später als »bécquet« (Klebezettel) in die Druckfahnen hineinzukleben, und schreibt danach, quer zur Linierung, einen neuen Anfang. Dass es sich nicht um den ersten Versuch eines neuen Anfangs handelt, darauf weist die sichere Schrift und die ausgewogene Formulierung.
    Entwurf zum Incipit
    Ohne die gestrichenen Passagen lautet der Entwurf übersetzt: »Während vieler Jahre schlossen sich mir am Abend oft, wenn ich abends eben zu Bett gegangen war, sobald meine Kerze gelöscht war, die Augen so schnell, dass ich mir nicht sagen konnte: Ich schlafe ein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Gedanke, es sei Zeit, den Schlaf zu suchen, ich wollte mein Licht ausblasen, die Zeitung weglegen, die ich noch in Händen zu halten glaubte; im Schlaf hatte ich mir weiterhin Gedanken gemacht über das, was ich gelesen hatte; ich war überzeugt, ich selbst sei die neue Sinfonie, die Abgeordneten, die gegen die Regierung eine Rentenkürzung beschlossen hatten; dieser Glaube hielt nach meinem Erwachen einige Sekunden an; er störte meinen Verstand nicht, doch er lag wie Schuppen auf meinen Augen, die er daran hinderte festzustellen, dass meine Leuchte gelöscht war.«
    Das angesengte Fetzchen Papier gelangte im Juni 2005 bei J. A. Stargardt in Berlin zur Versteigerung. Es ist heute im Besitz eines südamerikanischen Sammlers.
    »Longtemps, je me suis couché de bonne heure.«
    »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Ohne diesen Satz können wir uns die
Recherche
nicht vorstellen, und doch führt ein langer Weg zu diesem Incipit. Er beginnt mit den Entwürfen zum
Contre Sainte-Beuve
im ersten Halbjahr 1909 , führt zum Typoskript und den darin sichtbaren Versuchen, beschreibt im März
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