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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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années, le soir, quand je venais de me coucher […]«. Doch dann ersetzt er den Zeitungsartikel über die Datierung alter Statuen durch einen »Traité d’Archéologie Monumentale«, mit dessen Inhalten, den Statuen und dem Stil einer regionalen Schule, sich der Eingeschlafene identifiziert. Mit dem Zeitungsmotiv verschwindet eine letzte Spur des Sainte-Beuve-Projekts aus den Jahren 1908 / 09 , und von nun an empfängt Proust den Leser nicht mehr mit einer Zeitung, sondern mit einem Buch. Auch diese Version der Eingangsszene ist voller Streichungen und Korrekturen. In einer letzten Kehrtwendung wird sogar »Pendant bien des années, le soir, quand je venais de me coucher« wieder zu »Longtemps je me suis couché de bonne heure«, allerdings noch ohne das Komma, das in der ersten Fassung des Satzes nach »Longtemps« eine Pause markierte. Um ganz sicherzugehen, schreibt Proust diese Version auch noch auf einen Zettel, den er in die Fahne hineinklebt. Dabei ist wohl auch Proust nicht immer bewusst, welches nun das erste und welches das zweite Exemplar, welches der Entwurf und welches die für den weiteren Druck bestimmte Reinschrift ist. Jedenfalls findet sich auch auf dem anderen Exemplar der Fahnen das Incipit des angesengten Zettels, wird aber gleich durch die nun endgültige Version ersetzt, jetzt mit einem die Silbe
temps
betonenden Komma nach »Longtemps«. Allerdings war damals noch nicht abzusehen, dass dereinst »temps« im Titel und »Temps« am Ende von Prousts Roman stehen würden:
À la recherche du temps perdu
und »dans le Temps«. Neben dem erwähnten Komma nimmt Proust in diesem anderen Exemplar der Fahnen weitere Korrekturen und Änderungen vor. Nach dem Titel des ersten Teils setzt er eine römische Eins. Hier soll also ein erstes Kapitel beginnen. Dann ersetzt er den »Traité d’Archéologie Monumentale« zuerst durch ein Buch (»livre«), dann durch einen Band (»volume«), und beim Lesestoff geht es jetzt um eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V. (»une église, un quatuor, la rivalité de François I er et de Charles Quint«), Themen, die nun deutlich auf die Thematik des Buches vorausweisen, das der Leser soeben aufgeschlagen hat. Offensichtlich hat diese Version dem Drucker bei seiner weiteren Arbeit vorgelegen. Da Proust nun aber bei der Arbeit am Incipit Entwurf und Reinschrift verwechselt hat und so die letztgültige Version auf dem falschen Exemplar steht, greift er zur Schere, trennt die erste Kolonne der beiden Fahnen ab und wechselt sie aus. Bei dieser Operation hat auf einer der Fahnen der Titel »Les Intermittences du Cœur« seinen letzten Buchstaben verloren. Das verlorene »r« findet sich jetzt auf der anderen Fahne: Dort heißt es »Cœurr«. Bald wird es dem bedauernswerten Titel noch weit schlimmer ergehen.
    Proust im Konzert
    Am 19 . April hört Proust in der Salle Villiers ein Konzert mit Georges Enesco und Paul Goldschmidt, in dem Francks Violinsonate in a-Moll aufgeführt wird. Unmittelbar nach dem Konzert schreibt er seinem Freund Antoine Bibesco, der mit Enesco bekannt ist: »Lieber Antoine/Große Gemütsbewegung heute Abend. Beinahe tot ging ich in einen Saal in der Rue du Rocher, um Francks
Sonate
zu hören, die ich so sehr liebe, nicht etwa um Enesco zu hören, den ich noch nie gehört hatte
(sicissime).
Nun, ich fand ihn
wunderbar;
das schmerzliche Piepen seiner Geige, das seufzende Rufen antwortete dem Klavier, gleichsam von einem Baum, gleichsam aus einem geheimnisvollen Laubwerk. Ein ganz großer Eindruck. Ich sag es Dir, weil ich glaube, Dir eine Freude zu machen; ich weiß doch, dass Du ihn bewunderst. Und er entzärtelt und konturiert das
Rondo,
das man unter dem Vorwand, es sei engelhaft, meist als fades Stück spielt. Ich bin zu müde, um Dir das alles zu kommentieren, obwohl es
wichtige
Dinge zu sagen gäbe.« ( XII , 147 – 148 )
    Georges Enesco
    Das seufzende Rufen der Geige, die dem Klavier antwortet, weist wohl nicht auf den vierten (Rondo), sondern auf den Beginn des dritten Satzes der Sonate (Recitativo). Möglicherweise notiert Proust noch in derselben Nacht in einer seiner Agenden einiges zur Franck-Sonate, zum Vogelsang, den der Geiger evoziert, zum Spiel von Frage und Antwort; und bei der Überarbeitung der Korrekturbögen fügt er Motive und Formulierungen aus dem Brief an Bibesco und der Agenda in das Konzert bei Madame de Saint-Euverte, in dem sich Swann plötzlich mit »seiner« Geigensonate
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