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Proust 1913

Proust 1913

Titel: Proust 1913
Autoren: Luzius Keller
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Rouge«, dessen Tore tatsächlich rot sind, befindet sich an der Nordseite des Chores von Notre-Dame, und recht belichtet spielen die Szenen mit Proust in der Sainte-Chapelle und vor dem Sankt-Anna-Portal nicht in der Nacht, sondern am Tag. In der Nacht bleibt nämlich die Sainte-Chapelle hinter den unüberwindbaren Eisengittern des Palais de Justice verschlossen, und wenn es nicht ohnehin Tag und Nacht Verwendung findet, weist bei Prousts Lebensrhythmus auch das Nachthemd eher auf den Tag, den er schlafend, als auf die Nacht, die er schreibend verbringt.
    Was aber verbirgt sich hinter diesen Momentaufnahmen? Und was verbirgt sich hinter dem Wunsch, impressionistische Bilder zu betrachten und Beethoven-Quartette zu hören? Zweifellos sind die Wünsche Prousts Hinweise darauf, an welchen Teilen seines Romans er im Augenblick arbeitet. Man denkt an die Begegnung Marcels mit dem Maler Elstir, an die Phantasievorstellungen Marcels von der Welt der Guermantes und an die Entdeckung eines Kammermusikwerks jenes im Januar 1913 noch Berget genannten Komponisten, dessen Geigensonate in Swanns Beziehung zu Odette eine so bedeutende Rolle spielt.
    Ein erster Aufenthalt in dem Seebad an der Kanalküste ist schon in dem vorliegenden Typoskript enthalten. In den Entwürfen heißt der Ort Querqueville, im Typoskript Cricquebec, auf den Druckfahnen Bricquebec, in der Endfassung Balbec. Bei diesem ersten Aufenthalt begegnet Marcel beiläufig einer Gruppe »kleiner Mädchen« (»fillettes«), besonders aber drei Vertretern der Familie der Guermantes: Madame de Villeparisis, Monsieur de Fleurus (in den Entwürfen Gurcy oder Guercy, in der Endfassung Charlus) und Charles de Montargis (in der Endfassung Robert de Saint-Loup); beim zweiten Aufenthalt begegnet er dem Maler Elstir und befreundet sich mit den unterdessen zu »jungen Mädchen« (»jeunes filles«) herangewachsenen »fillettes«. Im zweiten Teil von
À l’ombre des jeunes filles en fleurs
sind die beiden Aufenthalte zusammengefasst. In der Figur Elstirs verbindet Proust den Maler impressionistischer Bilder und den Interpreten sakraler Kunst. Wenn Elstir die Fassade der Kirche von Balbec erklärt, ist er sozusagen das Sprachrohr Émile Mâles, dessen
L’Art religieux du XIIIe siècle en France
sowohl Prousts Wunsch, das Sankt-Anna-Portal zu besuchen als auch Elstirs Ausführungen zugrunde liegt.
    Bei Émile Mâle konnte Proust nachlesen, dass die zwölf Apostelstatuen an den Pfeilern der Sainte-Chapelle die Pfeiler der Kirche symbolisieren und dass bei der Weihe einer Kirche der Bischof zwölf Pfeiler mit einem Kreuz zeichnet (Farbtafel  IV ). Jede der Statuen trägt ein Medaillon in Händen, in das ein Kreuz eingeschrieben ist. Schon in einem Zeitungsartikel von 1907 hat Proust das Lenkrad, das sein Chauffeur (es war Agostinelli) in der Hand hält, mit den »Weihekreuzen in den Händen der Apostel, die sich an die Chorsäulen der Sainte-Chapelle in Paris lehnen« (
Nachgeahmtes und Vermischtes,
92 ) verglichen.
    Apostel mit Weihekreuz aus der Sainte-Chapelle, aus Émile Mâle: L’Art religieux du XIII e siècle en France
    1913 geht es um die Gesamtheit der zwölf Apostel, mit denen Proust die adligen Gäste von Mme de Guermantes vergleicht: »Selbst bei zwanglosen Einladungen konnte Madame de Guermantes ihre Gäste nur unter ihnen wählen, und bei den Diners für zwölf Personen glichen sie, wenn sie um den gedeckten Tisch versammelt waren, den goldenen Statuen der Apostel in der Sainte-Chapelle, symbolische Pfeiler und Weihegestalten vor dem Tisch des Herrn.« (
Guermantes,
37 – 38 )
    Der Wunsch, Beethoven-Quartette zu hören weist auf andere Teile von Prousts Roman. In der 1911 entstandenen Fassung der Schlussszene, der Matinee (damals noch Soiree) Guermantes, wird der zweite Akt von
Parsifal
aufgeführt, und die Erlösung des Wagner’schen Helden ebnet Prousts Protagonisten den Weg zum Künstlertum. Später ersetzt Proust
Parsifal
durch ein Quartett Bergets (in der Endfassung Vinteuils Septett) und verschiebt die musikalische Szene nach vorne, sodass die Schlussszene der Literatur vorbehalten bleibt. Man darf annehmen, Proust beschäftige sich zu Beginn des Jahres 1913 auch mit dieser musikalischen Szene sowie gewiss auch mit all jenen, die sie im Laufe der Handlung vorbereiten. Von diesen wird noch die Rede sein.
    Proust am Theatrophon
    Proust, den alle technischen Neuerungen faszinierten, war seit 1911 auf das Theatrophon abonniert, eine Vorrichtung, die es ihm
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