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Prime Time

Prime Time

Titel: Prime Time
Autoren: Liza Marklund
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derweil es sich mit dem Ärmel den Mund abwischte.
    »Warte!«, rief Thomas, während Ellen alles daransetzte, von seinem Schoß herunterzukommen.
    »Das müssen Sie aber selbst aufwischen«, sagte die Bedienung ärgerlich und gab ihm eine Rolle Küchenpapier.
    »Ja, ja«, sagte er und spürte, wie sich die Blicke der Mitreisenden auf ihn richteten. »Ja, ja, Ellen, Kalle, gleich ist alles wieder gut, ja, ja …«
    Er floh aufs Deck hinaus, das Mädchen unter dem einen Arm, den Kinderwagen unter dem anderen, während er Kalle wie einen widerspenstigen Trauerkloß vor sich herschob.
    In einer windgeschützten, überdachten Ecke setzte er die Kinder ab. Er zog seine Regenjacke aus, wickelte den Jungen darin ein und hob ihn auf die Bank. Kalle hörte sofort auf zu weinen und schlief binnen einer Minute ein. Dann klappte Thomas die Rückenlehne des Kinderwagens hinunter, steckte die Decke um seine Tochter gut fest und fing an, den Wagen schnell hin und her zu schieben. Auch sie schlief ein.
    Thomas arretierte den Wagen, kontrollierte noch einmal, dass die Kinder vor dem Regen geschützt waren, und stellte sich dann an die Reling und ließ sich von Wind und Wasser umarmen. Plötzlich überkam ihn unerklärliche Sehnsucht und das Gefühl, etwas verloren zu haben. Hier gab es etwas, das er gehabt und ihm dann abhanden gekommen war.
    Das Brackwasser, dachte er. Das Gefühl und der Geruch.
    Damit war er aufgewachsen. Das Wasser war ein Teil seiner Welt, war immer da gewesen. Seine Klarheit und Transparenz verband er mit weit mehr als Kindheit und Sommer. In Vaxholm, wo er bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr gewohnt hatte, war das Meer immer gegenwärtig gewesen. Doch in den letzten Jahren war dieser Teil seines Lebens verblasst. Er hatte eine seiner Wurzeln vergessen.
    Das ist sie nicht wert, dachte er.
    Und dann mit überwältigender Kraft: Ich bereue es.
    Er rang nach Luft. Bisher hatte er diesem Gefühl noch nie so viel Raum gegeben. Sein Magen verkrampfte sich, und das Gefühl, jemanden betrogen zu haben, drohte ihn in den Abgrund zu ziehen. Er hatte seine Ehefrau Eleonor nach einem Seitensprung mit Annika Bengtzon verlassen. Er hatte sein Haus, sein Heim und seine vertraute Umgebung zurückgelassen, um in Annikas baufälliger Altbauwohnung ohne warmes Wasser auf Kungsholmen in Stockholms Innenstadt zu wohnen. Er hatte seinen Treueschwur vor Gott und Eleonor verraten, seine Eltern, seine Freunde und Nachbarn im Stich gelassen. Eleonor und er hatten ganz selbstverständlich eine wichtige Rolle in Vaxholm gespielt, in der Stadt und im gesellschaftlichen Leben – sie als Bankdirektorin und er als Stadtkämmerer.
    »Für einen verdammten Fick«, sagte er in den Wind.
    Doch dann richteten sich die Schuldgefühle plötzlich gegen ihn selbst und trafen ihn mit der gleichen Wucht.
    Kalle, dachte er, tut mir Leid, ich habe es nicht so gemeint.
    Er kehrte dem Meer den Rücken zu und nahm das Bild der Kinder in sich auf, die unter dem Windschutz schliefen.
    Fantastisch, und es waren seine. Seine!
    Eleonor hatte keine Kinder gewollt. Er selbst hatte kaum über die Sache nachgedacht, ehe Annika an jenem Abend kurz vor Weihnachten verheult und schwanger zu ihnen nach Hause gekommen war. Wie lange war das jetzt her?
    Dreieinhalb Jahre? Nicht länger?
    Es kam ihm länger vor. Seither war er nur noch ein Mal in dem Haus gewesen, zusammen mit den Leuten von der Umzugsfirma. Das Geld, das er bekommen hatte, als Eleonor das Haus übernahm, hatte er in Aktien am Neuen Markt investiert, die ihm sein Anlageberater empfohlen hatte.
    »Kauf doch nicht so einen Mist«, hatte Annika gesagt.
    »Was sollen wir denn verdammt noch mal mit Breitbandhandys, wenn sie nicht mal funktionierende Computer hinkriegen?«
    Dann hatte sie ihren Laptop auf die Erde geworfen und ihm einen Tritt versetzt.
    »Gut durchdacht«, hatte er geantwortet. »Deine Analyse der Börse ist wirklich Vertrauen erweckend.«
    Natürlich hatte sie Recht behalten. Einen Monat später gingen die Kurse in den Keller und die seiner Aktien am meisten.
    Er trat aus dem Wind, war nass und kalt.
    Und sie waren noch nicht einmal an Gåshaga vorbei.
    »Warum funktioniert der Fahrstuhl nicht?«, keuchte Anders Schyman, als er im vierten Stock des Zeitungshochhauses ankam.
    Tore Brand sah ihn säuerlich an.
    »Die Feuchtigkeit«, erwiderte er. »Die Wartungsleute kommen am Montag.«
    Der Redaktionsleiter holte tief Luft und beschloss, die Sache nicht weiter zu erwähnen, bis ein
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