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Prickel

Prickel

Titel: Prickel
Autoren: Jörg Juretzka
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Wahnsinn. Genau das gleiche bei einer Lücke im Verkehr. So, die nehm ich jetzt und Iiiiihh! -Reifenquietschen, Hupen, Drohgebärden. Vielen Dank auch. Mein Weg durch die Stadt führt mich deshalb zwangsläufig von Ampel zu Ampel.
    Trotzdem - obwohl mir immer alles so schnell vorkommt -trotzdem weiß ich, daß der Kampf zwischen den drei verbliebenen jugendlichen Schlägern und meinem überraschend aufgetauchten Retter (so sah ich ihn damals) in Null Kommma nichts vorbei war. Die drei hatten nie eine Chance. Fußtritte, Fausthiebe, Handkantenschläge, Kopfstöße wechselten sich in einem regelrechten Trommelwirbel ab, und am Schluß wälzten sich drei gekrümmte Gestalten blutend und stöhnend im Dreck. Während der vierte immer noch daneben stand, immer noch seinen Arm haltend, immer noch fahl und, wenn möglich, noch entgeisterter dreinblickend als vorher. In dem Punkt ähnelten wir uns, denke ich.
    »So, das hätten wir dann wohl«, meinte der kleine Typ zufrieden. Er schien noch nicht mal aufgeregt zu sein. Fragend sah ich ihn an, und er sah kurz zurück. Ganz kurz nur, wirklich. Doch es war, als ob ich in einen Fotoblitz geschaut hätte.
    Ich pflanzte mich auf den Stuhl zwischen einem türkischen Clan-Boß mit seinen beiden frisch eingetroffenen Vettern, leicht zu erkennen an ihren wettergegerbten Gesichtern und verschossenen Anzügen, und zwei langlockigen, tätowierten Honkas. Damit saß ich genau gegenüber der Wanduhr. Leises, besorgtes Gemurmel füllte den Raum. Der Minutenzeiger ruckte minütlich. Mir fiel zum hunderttausendsten Mal auf, wie schlecht ich doch warten kann.
    Der Clan-Boß knetete eine Gebetskette, und die Honkas zogen hektisch an ihren Marlboros und berieten mit kaum gedämpften Stimmen, was sie mit dem Wichser vorhatten, der sie angeschissen hatte, gesetzt den Fall, sie bekämen ihn in die Finger, den Penner. Sie waren genau die Sorte, die zwei Drittel von dem, was sie mit geklauten Autos machten, zu ihren Anwälten trugen und sich für schlau hielten dabei.
    Nach endlosen viereinhalb Minuten wurde ich aufgerufen. Meine Passage durch das Vorzimmer verlief in bilateraler Kommentarlosigkeit. Für heute hatten wir's.
    Wagenrath kam extra um seinen Schreibtisch gewackelt, um mir sein Schwabbelhändchen hinzuhalten. Mit den Armen pumpend, versicherten wir uns strahlend und gegenseitig, wie Klasse wir doch aussähen. Dabei brauchten wir noch nicht einmal zu heucheln. Wagenrath wurde von Jahr zu Jahr rosiger, und, bei Gott, es stand ihm gut. Seine Lebenslust machte nicht vor dem Tellerrand halt und seine wunderschöne Frau liebte jedes Pfund an ihm. Ein glücklicher Mann. Mein - für meine Verhältnisse - recht erfreuliches Erscheinungsbild hatte dagegen denkbar konträre Gründe. Die letzten Wochen hatte ich den Barhocker gegen den Fahrradsattel getauscht, im zähneknirschenden Bemühen, durch heftigen Gebrauch meiner Muskulatur das zu erreichen, was mir durch heftigen Mißbrauch meiner Leberfunktion nicht hatte gelingen wollen, nämlich den Liebeskummer des Jahrzehnts niederzuringen. Samstagnacht war sowas wie ein Rückfall in alte Gewohnheiten gewesen, doch im übrigen hielt ich es mit viel Schlaf und viel Bewegung an frischer Luft und hatte sogar etwas Farbe gekriegt.
    »Urlaub gewesen?« Die Zwickmühle, daß Unhöflichkeit unhöflich, Zeit aber nach wie vor Geld ist, hat aus Wagenrath einen Meister der knappen Konversation werden lassen.
    »Duu«, sagte ich gedehnt, »nicht direkt, du. Irgendwie, also irgendwie ist das eine laaange Geschieh-«
    »Andermal«, unterbrach er mich. »Kristof, ich habe hier einen unangenehmen kleinen Fall am Hals. Eine Vaterschaftsklage.«
    Es juckte mich, doch ich verkniff es mir.
    Wagenrath sprang auf die Füße und begann auf- und abzulaufen. Wie immer, wenn er sprach, führten seine Hände ein Eigenleben dabei. »Das Mädchen ist gerade fünfzehn, und, na ja, etwas retardiert.«
    Ich mußte mir auf die Zunge beißen, so sehr juckte es mich. Er warf mir einen kurzen, mißtrauischen Blick zu, und ich war froh, es mir verkniffen zu haben.
    »Es besteht Verdacht auf Vergewaltigung«, sagte er grimmig. »Der angebliche Vater ist Mitte vierzig, unverheiratet und Polizist mit laufendem Antrag auf Frührente. Hat's im Rücken. Selbstverständlich streitet er alles ab. Gut, haben wir einen Bluttest verlangt. Wurde auch genehmigt, doch seitdem ist er abgetaucht. Seine Kollegen sehen sich bedauerlicherweise außerstande, ihn zu finden.« Er blickte säuerlich drein.
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