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Prickel

Prickel

Titel: Prickel
Autoren: Jörg Juretzka
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Das fiel mir auf.
    »Können Sie nicht anklopfen?« fauchte Frau Blomke mich mit einem kalten Blick über ihre Halbgläser hinweg an. Ich hatte sie beim Nägelreinigen überrascht. 1:0.
    »Glauben Sie wirklich, daß dies eine Frage des Könnens ist?« fragte ich mit zuckrigem Lächeln zurück.
    Sie war im Grunde nichts als eine kleine, ältliche Dame mit silberner Dauerwelle und hellgrauer Strickjacke, doch ihr unterstand das Vorzimmer, was ihr automatisch einen gottähnlichen Status verlieh. Es hat mich immer schon erstaunt, was für geringe Befugnisse man den meisten Leuten nur zu geben braucht, damit sie sich sofort in eine Art Machtrausch versteigen.
    Sie schwieg ein kleines, böses Schweigen, und ich las inzwischen ihre Gedanken.
    Nein, entschied sie und ließ ihre Nagelfeile in die Schreibtischschublade fallen, ich würde mich wohl nicht rausschicken lassen, um erst nach höflichem Anklopfen und einem gnädigen >Herein< wieder einzutreten, in Sackleinen gehüllt und mit Asche auf dem Haupt, eine Mütze zwischen den Händen wringend. Sie seufzte. Man kann halt nicht alles haben.
    »Nun«, sagte sie schließlich, räumlich gesehen von unten herauf, doch im Geiste eindeutig von oben herab, »bevor Sie sich zu den anderen ins Wartezimmer begeben, verraten Sie mir doch bitte Ihren Namen und was Sie hier wünschen.« Meinen Namen hatte ich ihr schon mindestens zwanzigmal verraten, ziemlich genauso oft wie sie persönlich mir meine Abrechnungen zusammengestrichen hat, doch als Lieferant von Dienstleistungen zählte ich für das alte Miststück zur Kaste der Bittsteller, an deren Namen sich zu erinnern eindeutig unter Stand wäre. Es fiel mir nicht leicht, doch ich behielt mein zuckriges Lächeln aufgesetzt.
    »Ich?« fragte ich unschuldig, »ich wünsche gar nix. Wagenrath-«
    »Doktor Wagenrath«, unterbrach sie mich mechanisch -»wünscht. Und zwar, mich zu sprechen. Gleich.«
    »Ihren Namen?« beharrte sie. Ich gab ihn ihr, sanft und geduldig.
    »Ooh«, machte sie zufrieden, »das werden Sie mir buchstabieren müssen!« Jetzt kann ich >Kaerypsiloneszettieneskai< in einem einzigen Rutsch herunterrasseln, schneller als irgend jemand sonst, den ich kenne, doch damit hatten wir uns letztes Mal amüsiert. Heute hatte ich mich anders vorbereitet. Mit spitzen Fingern zupfte ich eine meiner flatschneuen Visitenkarten aus der Jacke, legte, nein, plazierte sie auf der Schreibunterlage direkt vor ihrer gerümpften Nase und strich sie noch einmal glatt, sanft und geduldig, bevor ich mich wieder aufrichtete.
    Sie tat so, als müsse sie sie lesen, dann tat sie so, als müsse sie ihren Terminkalender studieren, und schließlich ließ sie sich zu einem zögernden »In der Tat« herab.
    »Trotzdem werden Sie sich in das Wartezimmer bemühen und dort etwas gedulden müssen, bis Sie aufgerufen werden.« Ein Satz, auf den wir beide gewartet hatten. Ich rührte mich nicht vom Fleck.
    »Ich frage mich«, sagte ich sanft, »was Sie wohl machen würden, wenn ich jetzt einfach und schnurstracks da reinginge?« Mit einem Nicken auf Wagenraths Türe.
    Sie hob den Kopf. Ihre Antwort kam prompt. »Ich würde Zeter und Mordio schreien, steif und fest behaupten, Sie hätten mich geschlagen und Ihnen anschließend eine Klage wegen Nötigung, Hausfriedensbruch und Körperverletzung anhängen, daß Sie nicht mehr wüßten, ob Sie Männlein oder Weiblein sind.« Und ihre Augen funkelten tückisch dabei.
    Ich räusperte mich. »Wenn mich jemand sucht«, sagte ich, »ich bin im Wartezimmer.«
    Es sind vor allem die raschen Entscheidungen, die mir Beklemmungen verursachen. Habe ich dagegen Zeit, und nicht allzu viele Möglichkeiten, komme ich irgendwann schon zu Potte. Pommes mit Mayo, Pommes mit Ketchup, oder Pommes rot-weiß? Das ist nicht so schwer, außerdem kann man sich das schon eine Weile vorher überlegen und hat dann im entscheidenden Moment die richtigen Worte parat; oder die passende Geste, Nicken oder Kopfschütteln, zumindest. Aber eine vielbefahrene, mehrspurige Straße zu überqueren? Auch noch mit Verkehr aus beiden Richtungen? Unmöglich. Glatter Selbstmord. Ich kann ja noch nicht mal eine Rolltreppe benutzen, und das nicht nur, weil mich die Geschwindigkeit, mit der einen die Dinger in die Höhe katapultieren oder in den Abgrund reißen, schwindelig macht, sondern einfach, weil man sich zum Rolltreppefahren für eine, eine bestimmte, dieser rasenden, scharfkantigen Stufen entscheiden muß. So, die hier nehm ich jetzt und Fuß drauf.
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