Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

PR 2646 – Die Tage des Schattens

Titel: PR 2646 – Die Tage des Schattens
Autoren: Leo Lukas
Vom Netzwerk:
nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sie mit Marrghiz die rhetorischen Klingen kreuzte.
     
    *
     
    Zwischen fünf und sechs Uhr früh zeigte sich Terrania City von seiner besten Seite. In jener Stunde kurz vor Sonnenaufgang, die romantische Literaten gern die dunkelste nannten, bemerkte man am wenigsten von den Veränderungen, die das Solsystem erschüttert hatten.
    Bis zum Horizont erstreckte sich das gleißend hell erleuchtete Häusermeer. Manche Gebäude ragten zwei Kilometer hoch auf. Am Himmel darüber hatte man auch vor der Entführung des Solsystems so gut wie nie Sterne gesehen wegen der Lichtfülle.
    Es fiel also nicht auf, dass es fast keine Sterne mehr am Himmel gab. Und wer sich bemühte, nicht daran zu denken, konnte beinahe vergessen, dass Sol erloschen war und in Kürze an ihrer Stelle nur ein Pulk von Kunstsonnen aufgehen würde.
    Die Zukunft war unsicherer denn je. Aber Terrania pulsierte unverdrossen. Die Metropole bedeckte eine Fläche von mehr als zweihundert Quadratkilometern, den größten Teil der ehemaligen Wüste Gobi.
    Eine solche Stadt konnte man formal in Besitz nehmen, indem man sie erpresserisch zur Kapitulation zwang. Sie zu beherrschen jedoch erforderte mehr; viel mehr.
    Das Leben ging weiter, 24 Stunden am Tag. Der nach wie vor drohenden Bebenkatastrophe zum Trotz war die überwiegende Mehrheit der rund hundert Millionen Bewohner im Ballungsgebiet geblieben. Menschen waren immer schon Großmeister darin gewesen, Bedrohungen zu verdrängen.
    Kurz nach der Machtübernahme hatten Gerüchte von zahlreichen spurlos Verschwundenen kursiert, wobei die Angaben stark differierten, von fünfzigtausend bis hin zu fünfzig Millionen.
    Den Beweis konnte man täglich sehen, auch in dieser frühen Morgenstunde: Zwischen den Türmen herrschte reger Verkehr, entlang der Gleiterrouten ebenso wie auf den Prallfeldstraßen und den energetischen Rollbändern, die zehnbahnig ausgelegt waren und auf zahlreichen Ebenen die gesamte City durchzogen.
    Im Stadtteil Antares City, dem eigentlichen Zentrum und Regierungsviertel, begegnete Phaemonoe Eghoo binnen weniger Minuten den Angehörigen Dutzender verschiedener Völker. Dass ihre Heimatplaneten in der Milchstraße und anderen Galaxien derzeit unerreichbar waren, mochte sie insgeheim belasten; anzumerken war es niemandem. Falls jemand Phaemonoe erkannte und ihre Kollaboration mit den Auguren missbilligte, zeigte er dies genauso wenig.
    Das Turbo-Rollband umkurvte einen weit ausladenden, retro-arkonidischen Trichterbau und bog in eine Straßenschlucht, die den Blick auf die Solare Residenz freigab. Die Stahlorchidee, Phaemonoes Ziel ... Sie schluckte unwillkürlich.
    Am Vorabend, als man sie über den Besprechungstermin informiert hatte, war ihr kein konkreter Grund mitgeteilt worden. Was wollte Marrghiz von ihr?
     
    *
     
    »Ich danke dir für das pünktliche Erscheinen«, sagte er sanft und lächelte sein eigentümliches Augurenlächeln. »Es ist schön, wenn man so verlässliche Mitarbeiter hat. Und Mitarbeiterinnen selbstverständlich.«
    Sie lauschte den Worten nach, argwöhnisch, dass er sie auf subtile Weise verhöhnte. Aber es hatte aufrichtig geklungen, wie alles, was er von sich gab.
    Verlässlich ...?
    Marrghiz konnte sich ihrer Loyalität keineswegs sicher sein. Sie wusste ja nicht einmal selbst, wo sie eigentlich stand!
    In den vergangenen Wochen hatte sie sich oft eingeredet, es handle sich um einen ganz normalen Job, ein professionelles Engagement wie viele andere auch. Ob sie als Kommunikationsberaterin für einen Großkonzern tätig war oder für die Regierung – worin lag der Unterschied?
    Hatte Marrghiz jemals etwas von ihr verlangt, was sie mit ihrem journalistischen Ethos nicht hätte vereinbaren können? Nein.
    Noch nie.
    Der kleine, fragile Mann wirkte weniger Furcht einflößend als einsam, ja verloren in dem Konferenzsaal, den er seit seiner Machtübernahme benutzte und nur geringfügig adaptiert hatte. Das auffälligste hinzugekommene Möbelstück war eine für Fagesy geeignete Ruhemulde, die gut acht Meter durchmaß und an einen exotischen, flachen, fünfzackigen Blütenkelch gemahnte.
    Die Mulde war unbesetzt, sehr zu Phaemonoes Erleichterung. Chossom, den Anführer der Fagesy, mochte sie genauso wenig wie er sie. Aber außer Marrghiz und ihr selbst befand sich niemand in dem Raum, der für ihren Geschmack etwas zu schummrig beleuchtet war.
    »Bitte, nimm Platz. Setz dich zu mir. Möchtest du dich verköstigen?«, fragte der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher