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Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Titel: Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Autoren: Tanja Weber
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zu denken. Stumm lagen sie nebeneinander im Bett, Beate horchte auf Julius’ ebenso gleichmäßige Atemzüge und wusste, dass auch er wachlag. Aber sie redeten nicht miteinander. Sie hatten keine Worte für ihr Schicksal. Manchmal nahm Julius unter der Bettdecke ihre Hand. Er hatte, im Gegensatz zu ihr, lange, schlanke Finger, die Haut war weich, und wenn er ihre Hand ganz leicht drückte, war sie für einen Moment voller Hoffnung. Sie hatten in diesem Jahr ihre Goldene gehabt. Gefeiert hatten sie nicht. Es hatte nichts zu feiern gegeben.
    Mit einem kleinen Seufzer drehte Beate sich auf die andere Seite. Sie öffnete die Augen, um ihren Mann anzusehen, undihr Herz machte einen kleinen Sprung. Julius hatte die Augen weit geöffnet, und im ersten Moment sah es so aus, als habe sein Herz ausgesetzt. Aber dann blinzelte er einmal, um gleich darauf wieder zur Decke zu starren. Aus dem Augenwinkel bahnte sich eine Träne ihren Weg durch die faltige Wange, sie lief zäh und vertrocknete auf halber Strecke. Julius’ Augen waren glasig, aber das waren sie immer, er war ein alter Mann. Die Augäpfel waren gelblich verfärbt, die Iris hatte ihre strahlend blaue Farbe verloren, und er hatte auf beiden Augen grauen Star. Er hätte es lasern lassen müssen.
    »Er wird dafür büßen«, hörte sie plötzlich Julius’ belegte Stimme sagen. Unverwandt starrte er an die Decke. Aber natürlich wusste er, dass sie wach war und dass sie ihn ansah. Fünfzig Jahre lagen sie nebeneinander in einem Bett, und da wusste man so etwas instinktiv.
    »Wir sind ruiniert«, sagte ihr Mann tonlos. »Und er wird dafür bezahlen.«
    *
    Die Geräusche hatten aufgehört. Sie wusste, dass die Töne ihrer Phantasie entsprangen, aber wann immer sie an den Mann im Keller dachte, stellte sie sich vor, wie er gegen den Heizkörper schlug und sich die Geräusche der Verzweiflung im gesamten Haus verbreiteten. Es hatte in ihrem Kopf gehämmert. Bis jetzt. Jetzt war Stille. Vielleicht würde sie nun doch schlafen können. Mehr als vier Stunden brauchte sie ohnehin nicht. Sie war rastlos, war es immer gewesen und empfand die Nachtruhe als lästige Pflicht. Beim Abendessen hatte Gudrun ihre Tochter beobachtet, ob die die Geräusche wohl auch hören konnte, aber die war in Gedanken versunken gewesen, hatte sich mit einem ihrer Romane beschäftigtund wie immer weder mit ihr gesprochen noch irgendetwas wahrgenommen außerhalb ihrer beschränkten Welt.
    Bittere Wut stieg in Gudrun von Rechlin hoch. Für wen tat sie das alles? Doch nicht für sich selbst, sie war alt, sie würde sterben. Bedürfnisse hatte sie nicht, sie hatte gelernt, sich einzuschränken. Lernen müssen. So, wie es angefangen hatte, würde es auch enden. In Armut. Vielleicht würde sie wieder Kaffee aus gerösteten Kartoffelschalen kochen. Und wenn schon. In der hinteren Ecke des Gartens, von neugierigen Blicken verdeckt, hatte sie im letzten Jahr ein Gemüsebeet angelegt. Mühsam erntete sie jetzt das, was Annette und sie zum Leben brauchten. Salat, Rote Bete, Karotten, Kartoffeln, Zwiebeln, Wirsing, Tomaten. Annette fragte nicht, woher das Gemüse kam. Sie merkte nicht einmal, dass Gudrun immer seltener zum Einkaufen fuhr. Dass sie nicht mehr mit Sahne kochte und auch nicht mit Butter. Dass der Kaffee nur mehr eine dünne Plörre war. Annette war entweder sowieso bei sich drüben und las und las und las, und wenn sie von ihren Büchern aufblickte, dann nur, um sich zu fragen, ob es schon Zeit für das erste Glas war. Und die Pillen. Ihre Freundinnen im Literaturzirkel, zu dem Annette einmal monatlich ging – merkten die nichts? Oder waren das alles Frauen wie ihre Tochter, mit vertrockneten Lenden, ohne Interesse an den Freuden des Lebens? Die sich in die trockene Papierwelt ihrer Bücher flüchteten, aus Furcht, eines Tages aufzuwachen und zu merken, dass sie in ihren Betten zu Staub zerfallen waren, den die polnische Putzfrau kommentarlos zusammenfegte? Sie, Gudrun, war nie so gewesen. Sie war in Ostpreußen aufgewachsen, auf dem Gut ihrer Eltern, gemeinsam mit fünf Geschwistern. Alle tot. Sie war auf Bäume geklettert, hatte mit den Tieren gespielt, mit dem Vieh, hatte der Köchinbeim Zubereiten der reichhaltigen Mahlzeiten geholfen, hatte genascht, gelacht und sich die Knie aufgeschlagen. Eine Kindheit, die sie als unbeschreiblich glücklich in Erinnerung hatte, jedenfalls bis zum Krieg und ihrer Flucht, an die sie immer öfter zurückdachte. Abend für Abend lag sie unter der doppelten
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