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Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland

Titel: Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Autoren: Tanja Weber
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sollte? Aber jetzt war es zu spät. Sonst ließ sie ihre Tochter einfach liegen, wo sie war. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie nicht erstickte. Sie kam ja immer wieder zu sich. Und natürlich hatte sie nicht vor sauberzumachen. Aber sie musste ihm das Gefühl geben,dass sie sich kümmern würde, sonst würde er nicht verschwinden.
    Der Mann nickte. Er wollte Annette hochwuchten, aber Gudrun zog ihr erst den verdreckten Pullover aus. Zum Glück trug ihre Tochter darunter ein Leibchen.
    Obwohl er schwächlich aussah – schmächtig und zu lang gewachsen –, schien der Briefträger kräftig zu sein, denn er schaffte es, Annette, ihren Arm um seine Schultern gelegt, aufzurichten. Halb trug, halb schleifte er sie, die versuchte, ihre Füße zu koordinieren und zu laufen. Was ihr nur mäßig gelang. Gudrun konnte nicht hinsehen. Ihre Tochter, dieses Wrack, die dumme Henne, die Versagerin. Sie drängte sich an dem Postboten und ihrer besoffenen Tochter vorbei, sperrte die Verbindungstür zwischen den beiden Wohntrakten auf, die sie immer geschlossen hielt und zu der Annette gar keinen Schlüssel besaß, und ging vor in Richtung Wohnzimmer. Mit schnellen Schritten und wachen Augen, damit sie noch etwaige Spuren beseitigen konnte. Aber da war nichts, sie war vorsichtig gewesen. Ihre Schlafräume lagen im ersten Stock, aber so weit würde sie ihn nicht hineinlassen, er sollte Annette auf das Sofa legen und abhauen. Zögerlich stand der Mann mit der schwer an ihm hängenden Annette auf der Schwelle des Zimmers und sah sich um.
    »Hier.« Gudrun zeigte auf die ausladende mattgrüne Polstergarnitur. Sie riss noch rasch das kleine Deckchen vom Beistelltisch und legte es zum Schutz auf den Samt. Der Mann wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor. »Das Schlafzimmer ist oben. Ich bringe sie später hoch, wenn sie besser beieinander ist. Legen Sie sie hierhin.«
    Das gefiel ihm nicht, sie sah ihm an, dass es einen inneren Widerstand gab.
    »Und dann gehen Sie. Sofort. Sonst rufe ich die Polizei. Sie sind unbefugt in meinem Haus.« Ihre Stimme wurde wieder scharf. Der Mann sah befremdet drein, aber es scherte sie nicht, was dieser Affe von ihr dachte.
    Annette stöhnte, als der Briefträger sie aufs Sofa legte, und zu allem Überfluss begann sie jetzt auch noch zu weinen.
    »Es tut mir leid«, ganz schwach und zittrig war ihr Stimme, »es tut mir so leid.«
    Dabei sah Annette nicht sie an, sondern den Fremden. Als ob der etwas auszustehen hatte! Sie trug doch die ganze Last auf ihren Schultern! Ungeduldig schob Gudrun den Mann zurück in den Flur. Er wehrte ihre Hände ab, aber er ging. Als er die Tür erreicht hatte, drehte er sich zu ihr um und wollte etwas sagen. Aber Gudrun knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
    *
    Mit zittrigen Beinen ging Johannes Stifter zu seinem Postfahrrad. Ihm war schlecht. Von dem Geruch, vom Elend, von der Gemeinheit der alten Frau, von seiner eigenen Ohnmacht. Er blickte zurück. Türen und Fenster des riesigen Hauses waren wieder verschlossen. Die Sonne schob sich hinter Wolken, die plötzlich aufgezogen waren, vom Wind getrieben, verdunkelten fliegende Schatten das Anwesen. Stifter tastete erneut nach dem Handy in seiner Hosentasche. Hätte er darauf bestehen sollen, den Arzt zu holen? War das unterlassene Hilfeleistung? Er hätte den Hausfriedensbruch ruhig riskieren sollen. Andererseits wirkte die Alte tatsächlich weder überrascht vom Zustand ihrer Tochter, noch schien sie der Situation nicht gewachsen zu sein. So routiniert und kalt.
    Ihm fiel auf, dass das eigenhändige Einschreiben noch immerquer über der anderen noch auszuteilenden Post lag. Er würde morgen wiederkommen. Er würde Annette von Rechlin ihr Einschreiben übergeben und sehen können, wie es ihr ging. Er stopfte das Einschreiben zurück in die Tasche und versuchte, das rechte Bein über den Sattel zu schwingen. Aber er merkte, dass ihm das Erlebnis noch in den Knochen steckte, seine Beine waren wackelig, und so schob er das Fahrrad ein Stück am Zaun des Rechlinschen Anwesens entlang. Kurz vor dem nächsten Grundstück blieb er stehen und holte tief Luft. Er hatte in einen Abgrund geschaut und das war ihm nicht bekommen. Es gab Dinge, die er nicht über Menschen wissen wollte. Heute Nachmittag würde er schwimmen gehen müssen. Das half. Das hatte schon in Germerow geholfen.
    Johannes Stifter setzte seine Tour fort, beendete auch die zweite Hälfte, aber er war fahrig und unkonzentriert. Er hatte sogar einige Sendungen
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