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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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hatte Niila sich seine eigene Sprache erschaffen. Ohne zu reden, ohne Konversation hatte er Worte erfunden, sie zusammengefügt und Sätze gebildet. Oder waren das nicht nur seine? Lag das vielleicht tiefer, eingebettet in die innersten Torflager des Gehirns? Eine Ursprache. Eine alte, eingefrorene Erinnerung, die jetzt langsam auftaute.
    Und schwupps waren die Rollen vertauscht. Statt dass ich ihn das Sprechen lehrte, war nun er es, der mich unterrichtete. Wir saßen in der Küche, Mutter war im Garten, das Radio quäkte.
    »Ci tio estas sego«, sagte er und zeigte auf einen Stuhl.
    »Ci tio estas sego«, wiederholte ich.
    »Vi nomigas Matti«, er zeigte auf mich.
    »Vi nomigas Matti«, wiederholte ich gehorsam.
    Schnell schüttelte er den Kopf.
    »Mi nomigas!«
    »Mi nomigas Matti«, korrigierte ich mich. »Vi nomigas Niila.«
    Er schmatzte eifrig. Es gab Regeln in seiner Sprache, es gab eine Ordnung. Man konnte nicht einfach so drauflosplappern.
    Wir begannen sie als unsere Geheimsprache zu benutzen, sie wuchs zu einem Raum, der nur uns gehörte, in dem wir unsere Ruhe hatten. Die Kinder aus unserer Gegend wurden neidisch und misstrauisch, aber das steigerte nur das Vergnügen. Mama und Papa wurden unruhig und fürchteten, ich könnte einen Sprachfehler haben, aber der Arzt, den sie anriefen, meinte, dass Kinder oft eine Phantasiesprache benutzten, und dass das bald vorbeigehen würde.
    Aber bei Niila hatte sich endlich der Halspfropfen gelöst. Mit Hilfe dieser Als-ob-Sprache überwand er seine Angst vorm Sprechen, und bald danach begann er auch Schwedisch und Finnisch zu reden. Er verstand ja viel und hatte bereits einen großen passiven Wortschatz. Der musste nur in Laute gekleidet werden, und die Mundbewegungen mussten eingeübt werden. Aber das erwies sich als schwieriger als angenommen. Lange Zeit klang es sehr merkwürdig, der Gaumen hatte Probleme mit den vielen Vokalen im Schwedischen und den Diphtongs im Finnischen, und die Lippen liefen vor Speichel über. Nach einer Weile konnte man ihn zwar einigermaßen verstehen, aber immer noch blieb er am liebsten bei unserer heimlichen Sprache. In der fühlte er sich zu Hause. Wenn wir sie sprachen, entspannte er sich und bewegte seinen Körper in leichteren, geschmeidigeren Bewegungen.
    Eines Sonntags geschah etwas Ungewöhnliches in Pajala. Die Kirche war nämlich bis auf den letzten Platz besetzt. Es war ein ganz normaler Gottesdienst, der Pfarrer war wie immer Wilhelm Tawe, und normalerweise wäre noch reichlich Platz gewesen. Aber an diesem Tag war die Kirche überfüllt.
    An diesem Tag sollten die Einwohner von Pajala nämlich den ersten lebendigen Schwarzen ihres Lebens sehen.
    Das Interesse war groß, sogar meine Eltern ließen sich dorthin locken, während sie sich doch sonst eigentlich nur zu Weihnachten an diesem Ort blicken ließen. Auf der Bank vor uns saß Niila mit seinen Eltern und allen Geschwistern. Nur ein einziges Mal drehte er sich um und sah über die Rückenlehne zu mir, bekam aber sofort einen harten Stoß von Isak. Die Gemeinde flüsterte und summte, es waren Beamte und Waldarbeiter da - und sogar ein paar Kommunisten. Das Gesprächsthema war klar. Man überlegte, ob er wohl richtig schwarz war, kohlrabenschwarz, wie die Jazzmusiker auf den Plattenhüllen? Oder war er vielleicht nur bräunlich?
    Beim Glockenläuten wurde die Tür der Sakristei geöffnet. Wilhelm Tawe trat heraus und wirkte hinter seiner Brille mit schwarzem Rand etwas angespannt. Und hinter ihm. Auch er im Priestergewand. In einem afrikanischen, glitzernden Mantel, oh ja ...
    Kohlrabenschwarz! Ein Raunen war von den Sonntagsschul-fräuleins zu hören. Ganz und gar nicht braun, eher blauschwarz.
    Neben dem Afrikaner trippelte eine alte Diakonisse, die viele Jahre lang in der Mission gearbeitet hatte, mager und mit gelbledriger Haut. Die Männer verneigten sich vor dem Altar, die Frau knickste. Dann leitete Tawe den Gottesdienst ein, indem er die große Gemeinde willkommen hieß und ganz besonders den weit gereisten Gast aus dem kriegsgeschüttelten Kongo. Die christlichen Gemeinden dort benötigten dringend materielle Hilfe, und die Kollekte dieses Tages sollte ohne Abstriche den Brüdern und Schwestern dort unten zugute kommen.
    Die Rituale des Gottesdienstes nahmen ihren Lauf. Aber alle starrten nur in eine Richtung, konnten sich gar nicht satt sehen. Während der Psalmen hörte man zum ersten Mal die Stimme des Schwarzen. Er kannte die Melodien, offenbar sangen sie in
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