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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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wird aufgrund des Sauerstoffmangels leicht grau. Ein Tornedalscher Kleinbürger flieht nie bei einem Angriff, weil das sowieso keinen Sinn hat. Man kauert sich zusammen und hofft, dass es bald vorbei ist. In öffentlichen Räumen setzt man sich ganz nach hinten, ein Phänomen, das man oft bei Tornedalschen Kulturveranstaltungen bemerken kann; zwischen dem Scheinwerferlicht der Bühne und dem Publikum klaffen gut zehn leere Stuhlreihen, während die hinteren Reihen alle voll besetzt sind.
    Niila hatte kleine Wunden am Unterarm, die nie heilten. Mit der Zeit bemerkte ich, dass er sich immer kratzte. Er tat das ganz unbewusst, die schmutzigen Fingernägel krochen ganz von selbst dorthin und richteten den Schaden an. Sobald sich Schorf bildete, kratzte er daran, brach ihn auf, riss ihn los und streute ihn in die Gegend. Sodass er manchmal auf mir landete, manchmal aß er ihn auch mit einer geistesabwesenden Miene auf. Ich weiß nicht, was ich am ekligsten fand. Wenn wir bei mir zu Hause waren, versuchte ich es ihm zu sagen, aber er schien es irgendwie nie wahrzunehmen. Und nach einer Weile machte er es wieder.
    Aber das Merkwürdigste an Niila war doch, dass er nicht redete. Schließlich war er schon fünf Jahre alt. Manchmal öffnete er den Mund und war kurz davor, man konnte hören, wie sich der Schleimkloß in der Kehle rührte. Das wurde zu einer
    Art Räuspern, ein Pfropfen, der sich zu lösen schien. Doch dann hielt er inne und sah ganz verängstigt aus. Er verstand, was ich sagte, das war zu erkennen, mit seinem Kopf war alles in Ordnung. Aber etwas darinnen hatte sich verhakt.
    Sicher spielte dabei eine Rolle, dass seine Mutter aus Finnland stammte. Eine schon von Vorneherein schweigsame Frau aus dieser gequälten Nation, die von Bürgerkrieg, Winterkrieg und folgendem Weltkrieg niedergetrampelt worden war, während die fetten Nachbarn im Westen Eisenerz an die Deutschen verkauften und dabei reich wurden. Sie fühlte sich minderwertig. Sie wollte ihren Kindern das geben, was sie selbst nicht bekommen hatte, sie sollten echte Reichsschweden werden, deshalb wollte sie ihnen lieber Schwedisch beibringen als ihre finnische Muttersprache. Und da sie selbst kaum Schwedisch konnte, schwieg sie lieber.
    Daheim bei mir saßen wir oft in der Küche, weil Niila so gern Radio hörte. Im Unterschied zu seinem Elternhaus hatte meine Mutter den ganzen Tag im Hintergrund das Radio laufen. Ganz gleich, was gesendet wurde, alles vom Verkehrsfunk über das Wunschkonzert bis zu den Kirchenglocken aus Stockholm, Sprachkursen und Gottesdiensten. Ich selbst hörte nie zu, das ging bei mir in ein Ohr rein und zum anderen wieder raus. Niila dagegen schien schon allein die Geräuschkulisse zu genießen, die Tatsache, dass es nie ganz leise bei uns war.
    Eines Nachmittags fasste ich einen Beschluss. Ich wollte Niila das Sprechen beibringen. Ich fing seinen Blick ein, zeigte auf mich selbst und sagte:
    »Matti.«
    Dann zeigte ich auf ihn und wartete. Er wartete auch. Ich beugte mich vor und schob ihm einen Finger zwischen die Lippen. Er sperrte den Mund auf, immer noch schweigend. Ich begann seinen Hals zu massieren, das kitzelte, er schlug meine Hand weg.
    »Niila!«, sagte ich und versuchte ihn dazu zu bringen, das Wort zu wiederholen. »Niila, sag Niila!«
    Er starrte mich an, als wäre ich ein Idiot. Ich deutete auf mein Geschlecht und sagte:
    »Bumsen!«
    Er lachte scheu über meine Frechheit. Ich zeigte auf meinen Hintern:
    »Scheißen! Bumsen und scheißen!«
    Er nickte und hörte wieder dem Radio zu. Ich zeigte auf seinen eigenen Hintern und zeigte mimisch, wie etwas herauskam. Fragend sah ich ihn an. Er räusperte sich. Ich erstarrte, wartete gespannt. Aber er schwieg. Wütend warf ich ihn zu Boden, schüttelte ihn.
    »Kacken heißt das. Sag kacken!«
    Er wand sich wortlos aus meinem Griff. Hustete und schien die Zunge im Mund zu kneten, um sie weich zu bekommen.
    »Soifa«, sagte er dann.
    Ich hielt den Atem an. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie klang dunkel für einen kleinen Jungen, rau. Nicht besonders schön.
    »Was hast du gesagt?«
    »Donu al mi akvon.«
    Noch einmal. Ich saß eine ganze Weile vollkommen überrascht da. Niila redete! Er hatte angefangen zu sprechen, aber ich kapierte nicht, was er sagte.
    Würdevoll stand er auf, ging zum Spülbecken und trank ein Glas Wasser. Dann ging er zu sich nach Hause.
    Etwas äußerst Merkwürdiges war geschehen. In seiner Stummheit, in seiner isolierten Furcht
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