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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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zu denken: Das ist meine Schuld. Das ist meine Schuld, wenn ich doch nur ein bisschen artiger gewesen wäre. Isak hatte seine Jungshände zu festen Fäusten geballt, und darinnen hatte es von Insekten gewimmelt. Und er dachte: Wenn ich sie öffne, dann sterben alle. Wenn ich sie loslasse, gehen wir unter.
    Und dann eines Tages, an einem Sonntag, nachdem die Jahre verstrichen waren und er groß und kräftig geworden war, wagte er sich auf das frische Nachteis hinaus. Alles ging entzwei, die Schale zerbarst. Er war dreizehn Jahre alt geworden und spürte, wie Satan in seinem Bauch wuchs, und mit einem Schrecken, der größer war als die Angst vor Prügeln, größer als der Selbsterhaltungstrieb, war er bei einem Treffen aufgestanden, hatte Halt bei den Rücken gesucht, war vor und zurück geschwankt und dann mit der Nase voran in Christi Schoß gefallen. Über seinen Kopf und seinen Brustkorb hatten sich vernarbte Handflächen gelegt, das war die zweite Taufe, so ging das damals vor sich. Er hatte seine Büchse böser Taten aufgeknöpft und war von seinen Sünden überspült worden.
    Kein Auge blieb bei der Versammlung trocken. Das war etwas Großes. Das war ein Ruf, dem man beiwohnte. Der Herr hatte mit eigener Hand den Jungen zu sich geholt und ihn dann wieder zurückgeführt.
    Und anschließend, als er zum zweiten Mal gehen gelernt hatte, als er auf wackligen Beinen dort stand, hatten sie ihn gestützt. Seine dicke Mama hatte ihn in Jesu Namen und Blut umarmt, und ihre Tränen waren ihm übers Gesicht gelaufen. Die Predigerlaufbahn war damit vorgegeben.
    Wie die meisten Laestadianer wurde Isak ein fleißiger Arbeiter. Im Winter fällte er Bäume im Wald, flößte sie im Frühsommer und schuftete auf dem kleinen Bauernhof seiner Eltern, die ein paar Kühe und Kartoffeläcker hatten.
    Er arbeitete viel und forderte nur wenig, verabscheute den Alkohol, das Kartenspiel und den Kommunismus. Was ihm hin und wieder Probleme bei den Waldarbeitern brachte, doch er sah den Spott seiner Kollegen als eine Prüfung an und las während seines Schweigens die Woche über in den Postillen des Predigerbruders.
    Aber am Wochenende säuberte er sich mittels Gebet und Sauna und zog sich ein weißes Hemd und seinen dunklen Anzug an. Bei den Versammlungen konnte er endlich den Schmutz und den Teufel angreifen, das zweischneidige Schwert des Herrn schwingen, Gesetz und Evangelium, wider alle Sünder, wider die Lügner, die Hurenböcke, die Scheinheiligen, die Fluchenden, die Trinker, die prügelnden Ehemänner und die Kommunisten, die sich wie Läuse in das Jammertal des Torne-dalschen Flusstals drängten.
    Sein junges, energisches, sorgsam rasiertes Gesicht. Die tief liegenden Augen. Geschickt fing er die Aufmerksamkeit der Versammlung auf, und bald heiratete er eine Glaubensfreundin, eine scheue, zurechtgehobelte, nach Seife duftende Finnin aus der Gegend um Pello.
    Aber als die Kinder kamen, wurde er von Gott im Stich gelassen. Eines Tages war es nur noch still. Niemand antwortete ihm länger.
    Zurück blieb allein eine große, abgrundtiefe Verwirrung. Trauer. Und eine langsam wachsende Boshaftigkeit. Er begann zu sündigen, einfach um es auszutesten. Kleine, böse Taten gegenüber seinen Nächsten. Und als er merkte, dass ihm das gefiel, machte er weiter. Während einiger ernsthafter Gespräche mit besorgten Glaubensbrüdern nahm er den Namen des Teufels in den Mund. Sie gingen ihrer Wege und kamen nicht zurück.
    Aber trotz seiner Verlassenheit, seiner Leere, bezeichnete er sich selbst immer noch als gläubig. Er hielt an den Ritualen fest und erzog seine Kinder nach den Worten der Schrift. Nur dass er die Gestalt des Herren durch sich selbst ersetzte. Und das war die schlimmste Form des Laestadianismus, die kälteste, die schonungsloseste: Ein Laestadianismus ohne Gott.
    Auf diesem bis ins Mark gefrorenen Boden wuchs Niila auf. Wie viele Kinder in einer bedrohlichen Umgebung lernte er zu überleben, indem er sich unsichtbar machte. Das hatte ich ja bereits bei unserer ersten Begegnung auf dem Spielplatz erlebt, seine Fähigkeit, sich lautlos von einem Ort zum anderen zu bewegen. Wie er die Farbe der Umgebung anzunehmen schien, bis er kaum noch zu unterscheiden war. Er war ein typisches Tornedalsches Kleinbürgerwesen. Man krümmt sich zusammen, um Wärme zu sparen. Man wird härter im Fleisch, bekommt steife Schultermuskeln, die dann im mittleren Alter anfangen zu schmerzen. Man macht kleinere Schritte, atmet flacher, und die Haut
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