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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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gespürten Gefühlen begleitet.
    Über ihrem
Gitterbettchen äugen verzerrte Grimassen, unbekannte Riesen
mit überdimensionalen Händen greifen nach ihrem Gesicht.
Sie tritt in die Pedale eines Dreirads, fährt im Kreis, ihre
Eltern stehen in der Haustür und winken. Kreidezahlen
füllen eine Schiefertafel, und sie saugt an ihrem Finger,
schaut ängstlich zum Lehrer hinauf. Sie steckt sich eine
Zigarette zwischen die Lippen, und ein junger Mann gibt ihr Feuer.
Die Eingangstreppe des Unigebäudes. Der Hörsaal. Ein See
im Sonnenuntergang. Liebevolle Blicke. Ein Kuss. Das weiße
Hochzeitskleid. Ein Schlag ins Gesicht. Verheulte Augen im Spiegel.
Ein Telefon klingelt. Der Schreibtisch im Büro. Laute Worte.
Streit. Menschen in einer Schlange. Die angeleuchtete Bühne in
einem Saal. Holzpuppen an Fäden. Eindringliche Stimmen: In
Bulemanns Haus, in Bulemanns Haus, da gucken die Mäuse zum
Fenster hinaus.
    Das
glühendheiße Projektil brennt unterhalb der linken Brust
ein kleines Loch in den Blazer ihres Hosenanzugs, reißt
einige goldfarbene Leinenfäden mit sich in den Wundkanal,
durchschlägt die Kammerscheidewand und dringt in die rechte
Herzkammer ein. Der AV-Knoten wird zerfetzt, das Herz hört
augenblicklich auf zu schlagen. Das Geschoss tritt aus der
Rückseite des linken Vorhofs aus, durchtrennt das
Rückenmark der Wirbelsäule und bleibt deformiert im
Knochen stecken. Der Körper ist sofort gelähmt,
schlägt mit ungebremster Wucht auf den Boden auf.
    Die Schallwelle der
Waffe erreicht ihre Sinne nicht mehr. Sie hat das Gefühl,
außerhalb ihres eigenen Körpers zu sein und wie eine
Feder im Wind langsam nach oben getragen zu werden. Sie ist bereits
eineinhalb Meter über dem Boden.
    Was willst du hier
oben, denkt sie erschreckt und blickt auf ihren vertrauten
Körper, der unter ihr am Boden liegt. Sie will es nicht
glauben, hat noch immer den Eindruck, weiterhin ihre
Körpergestalt zu besitzen.
    Mein Gott, so muss es
sein, wenn man tot ist! Bin ich etwa schon tot?
    Sie spürt den
unbändigen Drang, endlich wieder in diesen Körper
zurückzukehren. Gleichzeitig beobachtet sie aus sicherer
Distanz die makabere Szene, die sich dort unten abspielt, sieht,
wie die schwarze Gestalt verloren zwischen den drei ausgestreckten
Körpern hin und her tritt. Haltet ihn! Das ist ein
Mörder! Er scheint nach etwas zu suchen, kniet mehrmals
nieder, um etwas aufzuheben. Jetzt zertritt er Hannas Brille. Das
Glas zersplittert. Wenig später rennt er Hals über Kopf
davon, verschwindet blitzschnell zwischen den dichten Büschen,
die den Sandweg säumen.
    Von hier oben wirken
seine Bemühungen völlig sinnlos und aberwitzig. Sie muss
unwillkürlich lächeln, eine unbeschreibliche Leichtigkeit
erfüllt ihren Geist, Frieden. Große Gelassenheit breitet
sich in ihr aus. Leere berührt sie sanft. Ihr ist, als
würde sie durch einen altbekannten Tunnel gehen, dessen glatte
Wände durch einen einfallenden Schein in der Ferne
smaragdgrün schimmern. Sie schreitet voran. Ein goldenes Licht
kommt näher, strahlt mit überirdischer Helligkeit. Sie
kommt an eine unsichtbare Grenze, eine Scheidelinie zwischen ihrem
irdischen Leben und dem Leben danach. Ohne die geringste Furcht
tritt sie hinüber.
    *
    19. September 2002,
8.42 Uhr. Es sind keine fünf Tage mehr bis zu den Morden.
Petra Ørsted dreht den Zündschlüssel mit voller
Kraft nach rechts. Ihre Nasenflügel beben leicht, und eine
unbändige Wut treibt ihr die Röte ins ovale Gesicht. Die
zerbrechlich wirkende Frau tritt das Gaspedal bis zum Anschlag
durch. Der Motor heult laut auf.
    Was ist da wieder
passiert, denkt sie mit knirschenden Zähnen und lässt die
Szene, die sich vor wenigen Minuten in der Küche abgespielt
hat, vor ihrem inneren Auge Revue passieren.
    Die beiden Kinder
waren gerade aus dem Haus gewesen, als sie bemerkte, dass sie das
Klappen der Badezimmertür im ersten Stock noch immer nicht
gehört hatte. Sie legte das gezackte Messer auf die Anrichte,
schichtete die abgeschnittenen Brotscheiben in den Bastkorb auf dem
Küchentisch und stieg aufgebracht die Treppe zum Schlafzimmer
hinauf. Oben fand sie ihren Mann Sören schlafend vor, auf dem
Bauch quer über die Matratze ausgestreckt. Der Wecker lag am
Boden. Er hatte ihn anscheinend vom Nachttisch gefegt. Sie trat ans
Bett, fasste seine Schulter und schüttelte sie
vorsichtig.
    »Du musst
aufstehen, Liebling! Es ist schon 8 Uhr vorbei!«
    Er knurrte unwillig,
bevor er die Augen öffnete. Sein erster Blick hatte
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