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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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die
Geschichte, mit der Wiktor Šemik seinen Durchbruch als
Puppenspieler gehabt hat, denkt Swensen und erinnert sich daran,
dass er es im Programm der Puppenspielertage gelesen hatte. Der
Hauptkommissar setzt sich auf die Fensterbank und liest.
    Der Mann mit der
Aktentasche
    Dann, wenn das
tägliche Leben pulsiert, die Menschen über die Gehwege
hasten, ist er in seinem Element. Der Freitagnachmittag, kurz nach
Büroschluss, zählt immer wieder zu seiner
größten Herausforderung. Das ist der Zeitpunkt, an dem
das Gewimmel seinen Höhepunkt erreicht, an dem die Menschen
reale Substanz bekommen, zu reinen Körpern werden, zur Masse,
die alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt. Er
spürt sein Herz schlagen, sieht die Brandung stoisch auf sich
zurollen. Sein Blick richtet sich geradeaus, verliert an
Schärfe, löst sich ab von den Menschen und
Gegenständen und steuert ihn mechanisch. In seinem Gehirn ist
ein Schalter umgelegt worden, der alle Gedanken wie kleine
Zahnräder, Pendel und Federn antreibt, ihn einen Fuß vor
den anderen setzen lässt, Schritt für Schritt. In ihm
tickt ein logisches Uhrwerk, das von seinem eigenen Denken
aufgezogen wird. Das Ziel ist nur noch ein Leerlauf, er fühlt
eine unbändige Kraft, eine kribbelnde Lust und eine
grenzenlose Genialität.
    Ich bin ganz und gar
einzigartig, sagt seine innere Stimme, einzigartiger als alle
anderen Menschen um mich herum.
    Viele Jahre hatte er
gebraucht, um diesen perfekten Zustand zu erreichen. Auf seine
Erkenntnis war er allerdings nur rein zufällig gekommen. Er
hatte zwei Menschen beobachtet, die auf dem Bürgersteig
aufeinander zugeeilt und, ohne sich auch nur im Geringsten zu
berühren, aneinander vorbei gegangen waren. Dieser banale
Vorgang hatte für ihn so etwas wie eine Erleuchtung bedeutet.
Danach setzte sich in seinem Kopf eine Frage fest, unerbittlich.
Sie hatte ihn nicht mehr losgelassen: Wie waren die beiden
eigentlich aneinander vorbei gekommen?
    Die Fragestellung
wurde zu einer fixen Idee. Immer wieder beobachtete er diesen
alltäglichen Vorgang, nahm ihn bis ins Detail wahr. Zwei
unabhängige Körper begegnen sich auf dem
Bürgersteig. Ein hochkomplizierter, kaum beschreibbarer
Moment. Beide Menschen geraten in ein Spannungsfeld aus Energie und
Bewegung. Intuitive Sensoren nehmen Kontakt miteinander auf, tasten
sich blitzschnell ab, senden winzige Signale über die
Nervenbahnen ins Gehirn und dann fällt eine Entscheidung. Kein
Wort ist dafür nötig, kein Gedanke wird dafür
verschwendet, die unscheinbaren Zeichen werden einfach verstanden.
Einer der Menschen weicht im letzten Moment aus, während der
andere den Weg frei hat.
    Diesen unbewussten
Vorgang hatte er in alle Einzelheiten zerlegt, Teil für Teil
analysiert und am Ende zu einem genauen Ablauf wieder
zusammengesetzt. Dann lernte er, die unbewusste Sprache zu
begreifen, sie unter seine Kontrolle zu bekommen. Am Ende hatte er
den Prozess für seine Zwecke umfunktioniert. Jeder, der ihm ab
jetzt begegnete, wurde zu einem potenziellen Gegner, den es galt,
aus dem Wege zu räumen. Sein Wille wurde hart wie Granit, der
Blick leer, die Haltung undurchschaubar. Die Signale, die sein
Gegner beim Entgegenkommen aussandte, prallten an ihm ab wie an
einer Mauer. Es gelang niemandem mehr, ihm auch nur die kleinste
Regung anzusehen. Wer auf ihn zukam, hatte schon verloren, hatte
keine Wahl und musste unweigerlich zur Seite treten. Seit diesem
Zeitpunkt war sein Weg nie mehr versperrt, er war frei, ging
unbehelligt immer geradeaus.    
    Heute ringt ihm die
Erinnerung an diese Anfangszeit nur noch ein Lächeln ab. Doch
das hat noch niemand gesehen, kommt ihm jemand entgegen, hat er
sich sofort wieder im Griff. Seine Gesichtszüge werden
ausdruckslos, lassen keine Deutung zu. Wie ein unmenschlicher
Körper, frei von Regung, bahnt er sich seinen Weg.
    Wer das einmal
begriffen hat, für den wird der Lebensweg die einfachste Sache
der Welt, denkt er und drückt seine ausgefranste Aktentasche
fest an die Brust. Es sind nur diese unnötigen Gefühle,
die uns am Vorankommen hindern. Die muss der Mensch nur
eliminieren. Der klare Gedanke, das nackte Handeln bringt uns
voran, sagt uns ohne diese armselige Gefühlsduselei, wo es
genau langgeht.
    Von rechts rauscht ein
dunkler Schatten in sein Bewusstsein. Es folgt ein schmerzhafter
Aufprall, seine Füße verlieren die Bodenhaftung und er
wird zu Boden gerissen. Als er entgeistert aufblickt, sieht er eine
massige Gestalt über sich stehen.
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