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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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anderen. Ein Rabe
krächzte monoton im Wipfel einer Buche. Plötzlich wurde
es taghell. Seba erschrak, zog seinen Hals zwischen die Schultern
und hob vorsichtig den Kopf. Vor seinen Augen lag eine weite, von
der Sonne beschienene Lichtung. Seine düsteren Gedanken
verschwanden, und er fasste wieder neuen Mut und schaute sich ein
wenig in der Gegend um. Ein leises Brummen zog seine Aufmerksamkeit
an. Es war ein Schwarm Fliegen, der in einer dunklen Wolke
über einem umgestürzten Baumstamm stand. Neugierig trat
es näher heran. Hinter dem Baumstamm lag ein ausgedörrter
Kadaver.    
    Der alte Wolf,
durchschoss es Seba, und er stapfte entschlossen darauf zu. Da lag
das gefürchtete Ungeheuer, alle viere von sich gestreckt und
konnte keiner Fliege mehr etwas zuleide tun. Dafür hatten die
Fliegen ganze Arbeit geleistet und nur noch das Fell
übergelassen. Das kleinste Schaf schnupperte vorsichtig an den
zotteligen, dunkelbraunen Haaren. Mit der Schnauze schob es sich
Stück für Stück unter den Wolfspelz, bis von seinem
Körper nichts mehr zu sehen war.
    Ich werd ihm schon
Beine machen, dachte das Schaf und indem es sich aufrichtete,
erweckte es den bösen Wolf zu neuem Leben. Als es so als
Ungeheuer durch den Wald schritt, fühlte Seba eine ungeahnte
Kraft in sich aufsteigen. Er war nicht mehr das harmlose Schaf, er
war der böse Wolf persönlich, vor dem die Schafe
erzitterten, wenn sie ihn nur in der Ferne sahen. Der einzige
Nachteil dieser Angst einflößenden Hülle war, dass
Seba durch die beiden Augenlöcher im Fell nicht besonders gut
sehen konnte. Doch er achtete sowieso nicht mehr auf den Weg. In
seinen Gedanken war er bei den anderen Lämmern, denen er den
Schreck ihres Lebens bereiten wollte. Als das kleinste Schaf der
Welt den großen, dunklen Wald wieder verließ, merkte es
nicht, dass der grüne Hügel, der vor ihm lag, gar nicht
der altbekannte Hügel war. Es war nämlich von Süden
her in den Wald gegangen und hatte ihn nun im Norden wieder
verlassen. Als Seba den Hügel erklommen hatte, war von der
Herde nichts zu sehen. Ein kleines Stück weiter links lag noch
ein Hügel.    
    Das muss unser
Hügel sein, dachte er und stapfte entschlossen weiter. Doch
auf der nächsten Höhe war auch wieder nichts von der
Herde zu sehen. Seba stoppte verwirrt und schaute sich um. Das
kleinste Schaf der Welt hatte gänzlich die Orientierung
verloren. Alles sah mit einem Mal völlig gleich aus. Da vorn
sah es den nächsten Hügel und dahinter noch einen. Als es
noch darüber nachdachte, ob es einfach zurückgehen
sollte, tauchte endlich ein fremdes Schaf auf dem nächsten
Hügel auf. Seba kannte es zwar nicht, hatte es vorher auch
noch nie gesehen, aber er stürmte erleichtert auf das andere
Schaf zu, um es nach dem Weg zu fragen. Das Wolfsfell hatte er ganz
vergessen.
    Kurze Zeit später
standen sich beide Tiere Aug in Aug gegenüber. Plötzlich
lief es Seba eiskalt die Rückenwolle hinunter.
    Ich bin doch ein Wolf,
fiel es ihm fröstelnd ein. Wieso hat dieses Schaf nicht den
kleinsten Versuch gemacht, dem Wolf zu entkommen?
    »Hey, Schaf!
Hast du denn überhaupt keine Angst vor mir?«, fragte
Seba.
    »Nein, ich bin
das mutigste Schaf der Welt!«, antwortete das andere Schaf
mit dunkler Stimme.
    »Aber ein Wolf
ist der Erzfeind aller Schafe! Er hat große, scharfe
Zähne, mit denen er jedes Schaf mit einem Biss töten
kann!«
    »Du bist aber
ein merkwürdiger Wolf!«
    »Bin ich nicht!
Ich bin ein sehr, sehr gefährlicher Wolf!«
    »Bist du nicht!
Weshalb stehst du denn die ganze Zeit da und beißt mich
nicht!«
    Mit dieser Frage hatte
Seba nicht gerechnet. So lange das kleinste Schaf der Welt auch
nachgrübelte, es fiel ihm keine überzeugende Antwort ein,
nur die Frage: »Wie bist du denn zum mutigsten Schaf der Welt
geworden?«
    »Ganz einfach,
weil in mir eine alte Wolfsseele steckt!«, sagte das Schaf
bedrohlich und zog sich mit einem Ruck das Schafsfell über die
Ohren. »Ich bin nämlich der berühmte Wolf im
Schafspelz!«
    Seba erstarrte vor
Schreck und zitterte dabei am ganzen Körper wie Espenlaub.
Dabei rutschte dem kleinsten Schaf der Welt nach und nach das
Wolfsfell herunter, bis es in seiner nackten Schafsexistenz
dastand. Der Wolf machte einen mächtigen Satz, packte Seba
gnadenlos am Nacken und biss zu. Danach warf er einen
flüchtigen Blick auf das Wolfsfell und
lächelte.
    Das ist doch das Fell
vom alten Wolf, dachte er, während er genüsslich das
kleinste Schaf der Welt verspeiste. Wenn der
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