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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Autoren: Adam Soboczynski
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sieben polnischen Fälle, die Geschlechter und Konjunktionen
     hatten in meinem Polnisch ein unkontrolliertes Eigenleben zu führen begonnen. Es war hoffnungslos. Ich wurde verstanden, aber
     ein jeder wußte sogleich, daß ich aus Deutschland kam. Dort war ich oftmals »der Pole«, trotz eines deutschen Passes, in Polen
     würde ich fortan »der Deutsche« sein. Und eine Frage verfolgte mich auf meiner Reise beharrlich: ob ich bei der Fußball-Weltmeisterschaft
     nun ein Fan der Deutschen oder der Polen sein würde. Ich zuckte jedesmal hilflos mit den Schultern, scherzte mich über eine
     Antwort hinweg.
    Kayah sang weiter vom Tabak. Und das Paar, unermüdlich, tanzte einmal mehr an uns vorbei, fast hätte es uns berührt.
    »Tango«, sagte mein Tresennachbar, »ist ein Neutrum.« Das war auch sein letztes Wort, sein Kopf sank auf den Tresen, die Augen
     waren halb geschlossen. Wie tot, dachte ich kurz, doch er atmete leise und schwer.
    Schwarze, verbrannte Galle ergießt sich ins Blut, so |11| hat man sich das einst vorgestellt, wenn die Melancholie einen ergreift, das Vergnügen, traurig zu sein. »Na zawsze zostaw,
     jak znak miłości twojej« – »Laß den Tabakbeutel hier«, sang Kayah, »laß ihn mir für immer, als ein Zeichen deiner Liebe.«
     Sie tanzten noch immer. »Niech truje mnie powoli« – »Laß den Tabak mich langsam vergiften.« Und ich schaute mich um in der
     Kneipe, und die übrigen Gäste blickten auf das Paar, das den Tanz nicht lassen konnte, berauscht von sich selbst.
    Ich lächelte. Selbst nicht mehr ganz nüchtern, war ich in den Mittelpunkt meiner eigenen Erzählung geraten. In eine Erzählung
     der ungleichen Zeit, der wegstrebenden Lebensläufe diesseits und jenseits der Oder. Der Vergangenheit war ich auf der Spur,
     es galt, sie einzuholen, wohl wissend, daß sich die Vergangenheit niemals einholen läßt. Nur ihr Abglanz blitzt hervor für
     Augenblicke, aus verloren geglaubten Zeitschichten, und sie bleibt doch fern, einem Geist gleich, nach dem eine Hand greift,
     vergeblich: Sie greift durch ihn hindurch. Die Erinnerung ist mit der Lüge verwandt, der Blendung, der Verstellung. Sie lebt,
     spukt, zieht uns, zumeist unvorbereitet, fort. Sie reißt uns aus der Zeit, in der wir leben, mit Gewalt in einen Bildersturm.
    Ich hatte mich auf den Weg gemacht, um Menschen wiederzusehen, die ich Jahre, Jahrzehnte nicht gesehen hatte, auf einen Weg
     durch die eigene Vergangenheit. Ich würde Grażyna treffen, die erste Kinderliebe in meiner Heimatstadt, und Tadek, meinen
     Onkel, der mir |12| einst in Sommernächten in einem kleinen Dorf an der masurischen Seenplatte von Verbrechern erzählt hatte, die Gänse stahlen.
     Von meinem Großvater würde ich schreiben, der Wodka brannte, heimlich in der Küche. Davon, daß wir auszogen aus Polen, meine
     Eltern und ich, um in Deutschland unser Glück zu finden. Davon würde ich zuerst erzählen, der Chronologie wegen, von den ersten
     Schritten in dem neuen Land, das nunmehr ein vertrautes geworden war, und Polen ein fernes.
    Und ich würde durch Warschau ziehen, durch die von kommunistischen Alleen vernarbte Stadt, um zu erkunden, wie die schöne
     neue Warenwelt Einzug hält, unaufhaltsam.
    Ich würde mich der Gegenwart nähern, den Zwillingen, die das Land regieren, den Kaczyńskis. Auch den polnischen Künstlern,
     Malern und Schriftstellern wie Tadeusz Różewicz, der mit der Waffe im Anschlag einst gegen die Deutschen kämpfte. Im Aufstand.
     Ich würde Steffen Möller treffen, der fast jeden Abend als deutscher Star in einer Soap Opera durch polnische Fernsehkanäle
     geistert.
    Und bei all dem, bei den Gedanken an die Erzählung, die vor mir lag, hatte ich es beinahe übersehen:
    Ich war bereits mittendrin.

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GRAŻYNA
    MONATE SPÄTER ERST, bei einer der letzten Stationen meiner Reise, stehe ich vor den Klingeln des polnischen Hauses, in dem
     ich aufwuchs, das meine Eltern verließen, als ich sechs war. Sie wanderten mit mir nach Deutschland aus. Vor 25 Jahren. Nur
     noch Nummern, keine Namensschilder wie früher. Ich bin mir unsicher, wo ich klingeln soll. Ein kleiner Mann tritt aus der
     Haustür des vierstöckigen Wohnblocks, stapft mit schwarzen Stiefeln in den Schnee. Ich frage ihn, ob Grażyna Malinowska noch
     hier wohnt. Er antwortet nicht, kommt aber näher, drückt auf eine Klingel. Rasch ertönt das Surren des Türöffners. Ich steige
     die Treppen hinauf.
    Wir lebten in der Ulica Kościuszki in Toruń, 180
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