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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Autoren: Adam Soboczynski
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auf dem Fensterbrett unserer Küche und an den Wodka meines Großvaters, schwarz |20| gebrannt, verschlossen im Wohnzimmerschrank. Ich erinnere mich an die Päckchen aus dem Westen, die, sorgfältig vor den Blicken
     der Nachbarn und Freunde geschützt, unter dem Ehebett meiner Eltern lagerten: Kaffeepulver und Süßigkeiten, auch D-Mark-Scheine
     waren darin und Pullover und Jeans, die wir nur an Festtagen anzogen. Ich erinnere mich an den Zigarettenrauch abends in unserer
     Wohnung, wenn Nachbarn vorbeikamen und über die Kommunisten klagten, an ihre Stimmen, an das Murmeln, das mich langsam einschlafen
     ließ.
    Grażyna schiebt den Kinderwagen. Wir setzen uns auf eine Bank zwischen den Blöcken, eingehüllt in Winterjacken. Sie blieb
     immer in dieser Straße, heiratete früh. Sie sagt, genau das, was sie habe, einen Mann, drei Kinder, diese Stadt, in der sie
     lebe, das sei doch ein großes Glück. Ihr Leben scheint so sanft gebettet wie der Schnee auf unserer Straße.
    Die Polen hatten ihre kommunistischen Machthaber aus bürgerlicher Gesinnung heraus zermürbt: in Massenprotesten, mit dem Papst
     als heimlichem Anführer. In der Bundesrepublik, in der ich aufwuchs, im großstädtisch-studentischen Milieu der Post-68er-Emanzipation,
     wäre Grażyna vermutlich noch heute das Gegenbild von individuellem Glücksversprechen. Keine Beziehungsexperimente und kein
     rastloses Sehnen prägten ihr Leben, sondern frühe Seßhaftigkeit. Sie ist mir fremd geworden. Grażyna, nur wenige Stunden |21| nach unserem Wiedersehen, hat sich vom Bild gelöst, das ich als Kind von ihr hatte. Vermutlich hätte ich auf irgendeine Klingel
     meines Hauses drücken können. Mit einer beliebigen 37jährigen Mutter auf der Bank meiner Straße sitzen können. Um über die
     letzten 25 Jahre zu sprechen. Nur daß nichts zerstört worden wäre. Es gibt Wiedersehen, die sind trauriger als jeder Abschied.
     Sie greifen die Bilder der Vergangenheit an, entwerten das, was wir mühsam konservierten: unsere verklärte Erinnerung.
    Zum Abschied wird sich umarmt.
    Der Zug brachte uns zunächst nach Friedland, ein deutsches Auffanglager an der Grenze. Es war überfüllt. Wir schliefen in
     einem Achtbettzimmer zusammen mit anderen Aussiedlern aus dem Ostblock. Es wurde gestempelt, es wurden deutsche Pässe ausgegeben
     und Begrüßungsgelder ausgehändigt. Große, bunte Scheine.
    Wir standen in einer Schlange, warteten auf die Essensausgabe. Mutter sagte, halb scherzend, wir würden bald nie mehr in Schlangen
     stehen.
    Vater mochte den Rhein, er hatte ihn auf Bildern gesehen. Wir zogen nach nur einer Woche an den westlichen Rand der Republik,
     nach Koblenz. Nur wenige Monate nach unserer Ankunft wurde ich operiert. Es gibt Tage, da sind sie mir wieder erinnerlich,
     die Bilder karger Krankenhausgänge, die fremde Sprache der Schwestern nur ein Geräusch, der beißende Geruch von Putzmitteln,
     mein kindlicher Blick aus dem Krankenbett, |22| aus dem Fenster hinaus auf einen satten Rasen, auf blühende Bäume im Park, der das Klinikum wie ein Speckgürtel umgab. Meine
     Eltern brachten Schokolade. Vater sagte, bald wird alles besser. Auch das Gehen. Meine Straße lag in weiter Ferne.

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DER DRITTE WEG
    SOBALD ICH GEHEN KONNTE, wurde ich eingeschult. Schnell war mir die fremde Sprache nicht mehr nur ein Geräusch, hin und wieder
     blitzten im Wortschwall meiner Mitschüler Wörter auf, die ich verstand. »Pause« zum Beispiel. »Pause« war eines der ersten
     Wörter, die ich verstand, auch »Stillarbeit«. Bei »Still arbeit « wußte ich, daß die Lehrerin eine »Pause« machte und in einer Illustrierten blätterte, während die Schüler sich selbst überlassen
     wurden. Und daß die Schüler wiederum, »Stillarbeit« vortäuschend, nichts anderes taten, als auf das »Läuten« der »Klingel«
     zu warten, bis sie selbst eine »Pause« hatten. Langsam ergaben die Wörter einen Sinn, bildeten Zusammenhänge.
    Während des ersten Diktats meines Lebens hatte ich schweißnasse Hände, räusperte mich vor Erregung, wunderte mich, weshalb
     ein einziges Wort so häufig in dem diktierten Text vorkam: »Komma«. Ich fragte mich, »Komma« ausschreibend, was es zu bedeuten
     habe, nicht ahnend, daß es sich um ein Satzzeichen handelte.
    |24| Am Ende des ersten Schuljahres erhielt ich ein Zeugnis ohne Noten, mit einer schriftlichen Beurteilung. Frau Schmitt, die
     Klassenlehrerin, schrieb, ich sei ein »ausgeglichener Schüler«, allerdings
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