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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Autoren: Adam Soboczynski
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Kilometer nordwestlich von Warschau, 220   000 Einwohner, verfallene Patrizierhäuser, mittelalterliche Gassen und Kirchen in roter Backsteingotik. In der Altstadt mochte
     früher niemand wohnen, meine Eltern auch nicht: keine Heizung, die Bausubstanz marode, die Wände verschimmelt. Das Arbeiterglück
     lag in unserer Ulica Kościuszki. Am Rande der Altstadt baute der |14| Chemiebetrieb Elana, in dem mein Vater als Maschinenbautechniker arbeitete, eine kleine Arbeitersiedlung. Unser Haus gehörte
     dazu, vier Stockwerke mit identischen Wohnungen: drei Zimmer, so klein, daß kein Schrank umkippen konnte, eine Küche, Bad,
     insgesamt 48 Quadratmeter. Von den Fenstern aus blickte man auf den nächsten, baugleichen Block, dazwischen lag ein karger,
     asphaltierter Platz mit Spielgerüsten für den sozialistischen Nachwuchs.
    Im September 1981 sollte uns ein Zug nach Deutschland bringen, nur wenige Wochen bevor in Polen der Kriegszustand ausgerufen
     und die Gewerkschaft Solidarność für Jahre zerschlagen wurde. Wir durften auswandern, da die Eltern meiner Mutter deutscher
     Abstammung waren. Meine Mutter sprach gebrochen Deutsch.
    Ich stand das letzte Mal vor der Ausreise auf meiner Straße, auf dem Platz zwischen den Wohnblöcken. Ich blickte hinauf in
     die erleuchteten Fenster unserer Wohnung, meine Eltern packten die Koffer. Vater hatte gesagt, ich dürfte ein letztes Mal
     noch auf mein orangefarbenes Fahrrad steigen, auf dem Platz vor dem Haus, der für Autos gesperrt war. Zwei Schaukeln standen
     zwischen den Häusern, Turngerüste und eine Sandkuhle gab es. Nach nur einer Runde um die verwaisten Spielgeräte war die Fahrt
     beendet. Vor der Haustür unseres Blockes wartete Grażyna, strich sich blonde Strähnen aus der Stirn. Zeit, sich zu verabschieden.
    Grażyna, die Große. Sie war etwa doppelt so alt, zum |15| Zeitpunkt unserer Ausreise 13, ein blondes Mädchen, das in meiner Erinnerung immer strahlend lächeln würde. Wenn sie sich
     im Sommer trockenen Sand ins Gesicht rieb aus der Sandkuhle und dann lachte und sagte, genau so sei es am Meer. Und die mich
     mitnahm in das kleine Kino am Rande unseres Bezirks. Wir sahen Filme mit Louis de Funès, mit Untertiteln, die ich nicht lesen
     konnte. Ich fühlte mich älter, als ich war, nahezu erwachsen in dem großen Kinosessel. Grażyna, die mir das Laufen beibrachte.
    Das Laufen auf meiner Straße fiel mir noch als Sechsjährigem schwer. Mein linkes Bein war zu kurz geraten. Die Diagnose unmittelbar
     nach der Geburt: Fehllagerung in der Gebärmutter. Es bedurfte einer künstlichen Beinverlängerung. Das mißglückte Bein mußte
     ich schon als Kleinkind in Spitzfußstellung in eine Prothese aus Leder und Stahl stecken, damit mein Rückgrat beim Gehen gerade
     blieb. Jedes Jahr, des schnellen Wachstums des kindlichen Körpers wegen, gab es eine neue Prothese. Wenn die Hose beide Beine
     bedeckte, ich gerade stand und nicht etwa unbeholfen humpelte, erahnte niemand, daß in dem linken Schuh ein künstlicher Fuß
     steckte. Jedes Jahr mußte das Gehen neu erlernt werden, widerwillig in einem Fremdkörper.
    Grażyna brach meinen Widerstand. Nachmittags, wenn sie aus der Schule kam, holte sie mich ab, zwang mich auf den Platz zwischen
     unseren Blöcken. Sie wohnte zwei Etagen unter uns. Die ersten Wochen mit |16| meinem künstlichen Bein, während der Gewöhnungszeit, ging ich an ihrer Hand. Wir machten Pausen auf Bänken, die streng symmetrisch
     um den Platz herum angeordnet waren.
    Einmal erzählte sie, als wir die Beine baumeln ließen, daß ein Junge sie geküßt habe, flüchtig auf die Wange, vor der Schule.
     Ein anderes Mal, als sie bereits wußte, daß wir auswandern würden, daß der Junge sie nicht mehr küsse und sie deshalb fest
     entschlossen sei, auch auszuwandern nach Deutschland, wo es wenigstens schicke Klamotten gäbe und Orangen, die trösteten.
     Und dann lachte sie so laut, daß Passanten auf uns blickten, und ich vergaß das beschwerliche Laufen, und sie vergaß den Jungen,
     der sie nicht mehr küßte.
    Die Tür geht ruckartig auf. Der erste Gedanke: Sie hat sich nicht verändert. Die blonden, schulterlangen Haare, der kleine
     Mund, die wachen Augen. Grażyna stutzt, nach einer Weile: das vertraute Lachen, die zögerliche Frage, ob ich es sei.
    Grażyna macht Kaffee, polnischen. Der gemahlene Kaffee wird ins Glas geschüttet und mit kochendem Wasser übergossen. Dann
     muß man ein wenig warten, bis die
fusy
, der Kaffeesatz, auf den
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