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Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Titel: Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Autoren: Eric T. Hansen
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ungehobelten Cowboy Manieren beigebracht haben.
    Aber tief im Herzen bereuen wir diese Entwicklung. Tief in uns drin haben wir Angst, dass die Zivilisation uns die Lebenskraft und die Fantasie raubt, und wir sehnen uns nach der Wildnis, die Amerika uns einst versprach.
    Johannes Kelpius aus Nürnberg etwa war überzeugter Pietist. Im 17. Jahrhundert erfreute sich der Pietismus in Deutschland überaus großer Beliebtheit – bei den Pietisten handelte es sich um die deutschen Puritaner. Allerdings war Kelpius etwas extremer eingestellt als die anderen.
    Er war einer der Jünger eines abtrünnigen evangelischen Pfarrers und Astronomen und wurde, als dieser starb, zum neuen Anführer des frommen Grüppchens bestimmt.
    Was diese Pietisten von anderen unterschied, war ihre Überzeugung, die sie mit Hilfe von Horoskopen, Sternkarten und Teleskopen gewonnen hatten, dass Jesus genau im Jahr 1694 auf Erden zurückkehren würde. Dies war in der Tat eine sehr nützliche Information, vor allem weil man schon das Jahr 1693 schrieb. Aber damit nicht genug: Um Jesus bei dessen Wiederkehr gebührlich zu empfangen, war es ihrer Meinung nach unbedingt erforderlich, ihn in Amerika zu erwarten.
    Sie segelten also nach Philadelphia, damals ein Dorf am Rande des großen Waldes, und pilgerten von dort aus noch ein Stück weiter, bis sie zu einem unbewohnten Tal kamen, das der kleine Fluss Wissahickon durchzog.
    Am nächsten Morgen gingen sie an die Arbeit. Sie bauten ein Haus und wohnten dort alle gemeinsam, zölibatär selbstverständlich. Tagsüber, wenn Kelpius keine Hymnen komponierte oder Bücher über die richtige Art zu beten schrieb, ging er in eine nahe gelegene Höhle, die es heute noch gibt, und meditierte. Abends stieg er aufs Dach des Hauses und suchte mit dem Teleskop den Himmel nach Jesus ab.
    Ich mache es kurz: Er kam nicht.
    Ein paar Jahre danach, mit 35, starb Kelpius, vermutlich an einer Lungenentzündung von den vielen kalten Nächten auf dem Dach, und die anderen verließen das Tal des Wissahickon und kehrten in die Zivilisation zurück.
    Die Gruppe hat nichts Nennenswertes hinterlassen. Keine Tradition, keine Legende, kein Erbe, von dem Amerika heute noch zehrt. Das heißt, doch – eines hinterließen sie. Das Geheimnis ihrer Amerikareise.
    Denn es stellt sich doch die Frage: Warum mussten sie all das unbedingt in Übersee veranstalten? Zu Hause wurden sie ja nicht verfolgt. Sie stellten keine gesellschaftliche Gefahr dar. Sie wollten keinen neuen Staat gründen, sind keine Selbstmordsekte gewesen. Sie gedachten nur in aller Ruhe auf Jesus zu warten. Das hätten sie doch auch in Deutschland tun können.
    Aber es wäre eben doch nicht das Gleiche gewesen. Kelpius hätte immer die Blicke der Nachbarn, des Pastors, des Bürgermeisters im Nacken gespürt. Die Erwartungen, so etwas Verrücktes nicht zu tun, auf jeden Fall nicht in der Öffentlichkeit, wären erdrückend gewesen. Für eine so radikale Aktion wie die seine und die seiner Anhänger braucht man ein gerüttelt Maß an Freiheit, und die findet man nur dort, wo die Zivilisation noch nicht eingekehrt ist – in der Wildnis eben …
    Es gibt heute weniger Wildnis als damals in der neuen Welt. Wo im 17. Jahrhundert Wälder voller Bären, Raubkatzen und wilder Truthähne fast den ganzen Kontinent bedeckten, wo Pelzjäger später in der Prärie nur wild um sich ballern mussten, um irgendeinen Büffel zu erwischen, wo wilde Tauben an manchen Orten der Ostküste den Himmel verdunkelten, da gibt es heute überall Millionenstädte und asphaltierte Straßen. Wo man einst monatelang auf keinen Menschen traf, keinem Gesetz gehorchte und keinem Landesherren Tribut zahlte, sind heute die Steuerformulare so kompliziert, dass man (wie in Deutschland) einen Steuerberater braucht, die Gesetze so undurchsichtig, dass keiner mehr weiß, was die Politiker da oben überhaupt wollen – und wer einen Polizisten falsch anguckt, kriegt Pfefferspray ins Gesicht.
    In uns aber lebt die Wildnis weiter.
    Auf der einen Seite die Realität einer korrupierten Zivilisation, auf der anderen die Utopie einer unberührten Natur, wo noch kein Gesetz herrscht – dieser Gegensatz steckt in jedem Amerikaner.
    Deshalb findet man auch die wirklich extremen Spinner so häufig weit draußen im Wald, fernab der Zivilisation.
    Während andere Völker ihre Wertschätzung der Natur dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie Wanderwege anlegen und sonntags in Goretex-Jacken durch die Wälder streifen, kaufen wir
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