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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues
Autoren: Julia Gaebel
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den Abend zu Hause verbracht hatte, ging langsam zum Schlafen über, und der Abend wurde zur Nacht. Die Wolken waren über der Gegend festgefroren, und der Schnee drang durch die Fensternischen in die Schlafzimmer, und die Sehnsucht pflanzte sich in die Träume.
    Der andere Teil Rickvilles ließ den Sugarclub aus allen Nähten platzen.
    Tulipe stieg auf die Bühne und nickte Myris und Queery zu. Es waren erst gar keine Töne zu hören, man konnte aber die Schwaden greifen, die den Instrumenten entstiegen.
    Tulipe schmiegte sich an ihre Worte. Sie erzählte von grünen Gräsern, die in heißen, endlosen, freien Sommern in den Kniekehlen kitzelten, von früh geraubter Kindheit und schlagartigem Erwachsenwerden, von Tod und falscher Sühne. Sie hob ihre Stimme. Die Gespräche verstummten nach und nach, und alle schauten Tulipe an, wie sie sich immer weiter entfaltete, ganz neue Farbe bekam, frisch und sacht. Sie schickte ihr Lied auf den Weg.
    Pitty und Dick hörten sie.
    Pitty stand vor dem Steg und war wie gebannt. Sie
hatte noch nie so etwas gehört, und das, was Tulipes Gesang in ihr auslöste, war so neu, dass ihre wachsende Neugierde sie überrannte. Sie wollte Dick anfassen, sie sah ihn ganz genau, und es genügte ihr nicht. Es kribbelte am ganzen Körper. In der vergangenen Nacht hatte sie das auch gespürt, als er sich im Schlaf bewegt hatte und seine Hände an ihrem Körper entlanggestrichen waren. Er hatte Schneisen geschlagen, die Pitty auch jetzt sofort wieder spürte, sie sah die Spuren in Gedanken rot auf ihrer Haut. Und auch wenn sie sonst keiner sehen konnte, für Pitty waren Dicks Handwege dort für immer eingebrannt.
    Er stand auf, ging ihr entgegen.«Was jetzt?»
    «Jetzt gehen wir nach Hause.»Sie stellte sich vor ihn und küsste ihn und ließ ihn nicht los, als sie den Weg zu Dicks Hütte einschlugen.
    Sie gingen, begleitet von Tulipes Lied, dessen letzte Klänge sie bis in den Wald trugen.
    In dieser Nacht schliefen Dick und Pitty miteinander, und ihre Hände und Lippen hinterließen viele unauslöschliche Spuren auf ihren Körpern.
    Während sich Pitty beim Einschlafen an Dicks Seite kuschelte, summte sie leise die Melodie, die Tulipe im Sugarclub gesungen hatte.
    Unter seinen rauen Fingerkuppen spürte Dick Pittys Haut. Er wusste, wie sich Samt anfühlt, seine Mutter hatte eine Stola besessen aus dunkelrotem Samt. Pittys Haut war genau so. Wie Lillys Stola. Neben ihren Augen und unter den Schatten ihrer feinen braunen Wimpern schienen kleine blaue Adern durch. Er sah vor sich seine
Mutter, wie sie lachend im Kreis tanzte und die Stola mitschwingen ließ.
    Es war Abend gewesen, Lilly hatte ihr Grammophon angekurbelt, sich erst im Takt gewiegt und dann getanzt. Sie hatte die Arme nach Elliot und ihm ausgestreckt, und zu dritt hatten sie im Kreis getanzt, sich so wild gedreht, bis ihnen schwindelig wurde und sie lachend auf den Boden fielen und sich ineinanderknäulten.
    Zum ersten Mal dachte Dick ins Dunkel hinein an seine Familie ohne dieses bohrende, klopfende Gefühl, das ihm den Hals zuschnürte.
     
    Im Sugarclub liefen die letzten Pokerrunden, und ein paar Hartnäckige nagten sich am Tresen fest. Ohne großen Erfolg, denn kurz darauf pflückte Moe sie dort weg und schickte sie zu ihren Frauen in die Koje. Dort konnten sie ihren Rausch ausschlafen.

DER DRITTE TAG

    S ommernächte sind nicht nur warm. Die Zeit kurz vor Sonnenaufgang, zu der der Tau sich ankündigt, hat einen Hauch, der aus der anderen Welt kommt. Wenn der Frühdunst in Schwaden über den Boden zieht und die ersten Orangetöne die Sonne ankündigen, streift einen die Kälte. Sie macht Gänsehaut. Man sieht die Wärme kommen, aber die Kälte hat einen ganz fest im Griff und gibt einem diesen bitteren Vorgeschmack auf das, was der Winter bringen wird. Ich weiß, es ist nur ein Augenblick. Aber er ist so außergewöhnlich, dass man noch fröstelt, wenn die Temperaturen schon längst gestiegen sind. Allein der Gedanke an diese besondere Zeit am Morgen reicht dafür aus.
    Dieser Morgen war kein Sommermorgen. Die Nacht war auch nicht warm. Die Kälte hatte Rickville nun schon den dritten Tag im Griff, und sie wirkte unendlich. Die Sonne wollte nicht durchbrechen, und das dunkle Graublau der Nacht wandelte sich in das trostlose Grau des Morgens. Hier und da fielen ein paar kleine Schneeflocken und suchten sich zögernd einen Ort zum Bleiben.
     
    Dicks Hütte wirkte so klein und grau, und je länger man sie betrachtete, desto mehr
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