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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel
Autoren: Anna Stothard
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unwahrscheinlich großer Mann saß auf dem Fußende von Lilys Bett,
genau vor dem Schlüsselloch, den Kopf in die Hände gestützt. Es war der Mann,
den ich [11]  unten schon mal gesehen hatte, als er in einer Ecke der Lobby Wodka
aus der Flasche trank, wie einem Märchen über Riesen oder Monster entsprungen.
Er war etwa Mitte dreißig und trug ein gestreiftes Hemd, einen ausgebeulten
schwarzen Pullover und eine blaue maßgeschneiderte Hose mit Löchern, die wie
Satzzeichen auf seinen Oberschenkeln aussahen. Auf seinem Kopf, das dunkle Haar
kaum länger als die Bartstoppeln, saß eine alberne Sonnenbrille mit Goldrand.
Seine Hose mochte einmal teuer gewesen sein, doch inzwischen war der Saum ausgefranst,
als trüge er Designer-Secondhand zusammen mit Sachen, die er im Suff auf eBay
bestellt hatte. Reglos, mit hängenden Schultern, hockte er auf Lilys Bett.
    Nach einer Weile sah sich der Riese im Zimmer um und nahm ein Foto
vom Nachttisch. Es war das von der lachenden Lily im Schneidersitz unter einem
Baum. Unbeholfen wollte er es mit seinen Pranken aus dem Rahmen lösen. Dabei
klemmte er sich den Daumen ein, den er wie ein Kleinkind in den Mund steckte.
Ich war froh, dass der Mann das Bild von der lachenden Lily im weißen T-Shirt
klaute und nicht das daneben, auf dem sie nackt war. Vorsichtig zog er das Foto
unter dem Glas hervor, und als er es in die Tasche steckte, drang aus dem Flur
vor dem Zimmer wieder ein Geräusch. Der Riese spielte offenbar kurz mit dem
Gedanken, sich im Bad zu verstecken. Ein Blick aus seinen grünen Augen schoss
in meine Richtung, und er stützte beide Hände auf die Knie, als wäre er drauf
und dran, seinen schwankenden Körper nach oben zu stemmen. Ich hielt den [12]  Atem
an und wartete, dass ich entdeckt würde – unentschuldbar nackt und klatschnass
im Badezimmer einer Toten –, doch der Körper des Riesen war schwerfällig vom Alkohol,
und ehe er vom Bett hochkam, ging Lilys Zimmertür auf.
    »Was soll der Scheiß?«, nuschelte die Bugs-Bunny-Stimme des
Rothaarigen. Durch das Schlüsselloch konnte ich ihn nicht sehen, nur seinen
schweren Atem hören.
    »Tut mir leid«, sagte der Riese, erhob sich vom Bett, ging in die
Richtung, wo der Rothaarige stehen musste, und verschwand so aus meinem
Blickfeld. Es hörte sich an wie Gerangel und dann, als ob Haut auf Haut
klatschte. Der Rothaarige fluchte, der Riese gab einen Laut von sich, der
sowohl Schmerz als auch Anstrengung wie bei einem Faustschlag bedeuten konnte.
Was genau passierte, sah ich nicht, aber dann taumelte der Riese rückwärts und
fiel beinahe hin. Wieder ein Klatschen, und dann brach auf einmal der
Rothaarige auf Lilys Bett zusammen. Alles schien stillzustehen, nur die Motte
an der Badezimmerdecke bewegte sich noch. Der rothaarige Mann blieb wie gefällt
liegen, aber seine blutunterlaufenen Augen starrten den Riesen ausdruckslos an.
    »Verpiss dich«, nuschelte er. Er drehte den Kopf auf Lilys Kissen
zur Seite.
    »Es tut mir so leid«, sagte der Riese.
    »Dann verpiss dich einfach aus meiner Wohnung. Hier gibt es nichts
zu holen. Haut doch einfach alle ab.«
    »Es tut mir so leid«, wiederholte der
Riese. »So schrecklich leid.«

[13]  2
    Der Rothaarige lag völlig weggetreten auf dem Bett. Selbst
als ich ihn zudeckte, bewegte er sich zwar kurz, schlug aber weder die Augen
auf, noch sagte er etwas. In seinen Nasenhaaren klebten Reste weißen Pulvers,
die Haut glänzte wie frisch gestrichen. Offensichtlich hatte er sich am Morgen
sorgfältig eingekleidet; beide Schlangenlederschuhe waren akkurat geschnürt,
die Socken farblich auf den Wildledergürtel abgestimmt. Doch jetzt hatte er
Erbrochenes auf der Hose, und Bierdunst ging von ihm aus.
    Behutsam hob ich ein paillettenbesetztes Kleid vom Boden auf und
hielt es mir an, aber es sah albern aus. Ich war fast achtzehn und hatte noch
immer keine Kleiderfigur. Sie standen mir einfach nicht. Ich ließ es wieder
fallen und setzte mir einen Männerhut auf, eine Melone. Auf dem Boden herrschte
ein einziges Chaos, ein Meer aus Seide, Leder, Kaschmir und Baumwolle, und inmitten
der übermächtigen Weiblichkeit ein paar zerknitterte Männerhemden, Krawatten,
Slipper und Turnschuhe wie Inseln. Bei der Schlägerei hatte auch der Schrank
etwas abbekommen, und die Kleiderstange war heruntergerutscht. Jetzt sah das
Zimmer noch wüster aus als zuvor. Mein Blick blieb an einem Paar roten [14]  Lackstilettos
und an grauen Ballerinas hängen. Ich hob die Nerzstola auf und legte sie mir
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