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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel
Autoren: Anna Stothard
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Umwelt »sichtbar«. Laurence sagte immer, ich hätte den
»kleptomanischen Chic« perfektioniert, was offenbar heißen sollte, dass ich
mich anzog wie jemand, der sich der eigenen Existenz unsicher ist. Schon als
Kind wurde ich übersehen. Laut meinem Dad habe ich bis zum [24]  Alter von fünf
Jahren weder gelächelt noch gesprochen, weswegen alle glaubten, ich wäre
taubstumm oder autistisch oder beides. Er sagte, ich sei das »personifizierte
Schulterzucken« gewesen, ein Kind, in dessen Miene sich Angst, Wut, Freude oder
Liebe auf die gleiche Weise spiegelten – den Kopf schräggelegt und ein leerer
Blick aus ungeheuer weit aufgerissenen Augen.
    Ich versuchte unsichtbar zu sein, als ich fluchtartig die Wohnung
ganz oben im Pink Hotel verließ, aber wenn man Angst hat, ist das keine leichte
Übung. Ich schleppte Lilys Koffer durch die Reste der Party und fürchtete, der
Rothaarige würde sich vom Boden aufrappeln und an meine Fersen heften. Dauernd
sah ich mich um, aber er kam nicht. Allerdings schienen sich einige andere
Leute für mich zu interessieren, darunter eine Frau in einem Leder-Minikleid
und ein Mann mit einem goldenen Stecker in der Nase, dessen Äußeres aggressiv
wirkte bis auf die akkurat gescheitelten schwarzen Haare. Ich registrierte ihn
in jener ersten Nacht im Hotel nur am Rande, doch dank der Kombination aus
Schuljungenfrisur und Schlägervisage erkannte ich ihn später wieder. Die
Mischung aus Techno und Elektro war inzwischen verstummt, möglich, dass jemand
Geräusche von oben gehört hatte. Hier und da lagen Leute in den Zimmern und
schliefen, einzelne tanzten noch auf den Fluren selbstvergessen vor sich hin.
Eine Frau übergab sich in eine Toilettenschüssel, und ich hätte schwören
können, sie schaute auf und lächelte mich schief an, als ich vorüberging.
Irgendjemand weinte. Ich lief die Treppe hinunter und aus dem Hotel auf die [25]  Strandpromenade,
wo hinter Straßenlaternen und Palmen das Licht gerade erst bläulich wurde. Der
Koffer war nicht schwer, nur sperrig, dauernd stieß er mir gegen das
Schienbein.
    Ich sah mich um, ob mir auch niemand folgte. Auf der Vortreppe saßen
Leute und rauchten, ein Paar küsste sich, an die rosa Fassade gelehnt, sonst
sah ich niemanden. Eine Querstraße weiter schliefen Obdachlose auf
Lumpenbündeln und Wellpappe. Einer von ihnen warf mir einen Blick aus
tiefliegenden, vom Rausch vernebelten Augen zu, aber der Rest lag
zusammengerollt da, die staubigen Augenlider geschlossen. Ich hielt den Koffer
ein bisschen fester und ging weiter, bis ich weder die Obdachlosen noch die pinkfarbenen
Hotelmauern mehr erkennen konnte. Dann setzte ich mich auf eine Bank am Rand
des immer noch nachtschwarzen Strandes, um in Lilys Koffer nach einem Pullover
oder einer Jacke zu wühlen, die ich bis zum Sonnenaufgang überziehen konnte.
Aus dem Chaos meiner Beute fischte ich die Motorradjacke heraus, die Lily auf
dem Foto mit ihrer Maschine getragen hatte. Ich dachte kurz daran, Dad
anzurufen und ihm zu sagen, dass es mir gutging, beschloss aber, mich vor
diesem Kampf erst einmal zu beruhigen. Ich zog den Reißverschluss der
Lederjacke bis unters Kinn.
    Erst sah es nicht so aus, als würde ich auf einer Bank vor einem
solchen Postkartenklischee von Strand einschlafen können, aber bald ging die
Sonne auf, und das Adrenalin in mir pochte nicht mehr ganz so stark. Mit dem
Koffer als Kopfkissen legte ich mich hin. Das Licht [26]  war wunderschön,
irgendwie frostig. Seit sechs Jahren hatte ich das Meer nicht gesehen, seit
einem Campingurlaub in Cornwall. Ich liebe das Meer nicht in irgendeinem
kosmischen Sinn, aber ich mag es wirklich sehr. Wenn man sie mit Tieren
verglich, dann war der Atlantik ein geifernder, bissiger Rottweiler, und der
Pazifik ein schläfriger Gecko in der Sonne. In diesem seltsamen Sommer träumte
ich immer wieder den gleichen Traum, immer war er zuerst ein Gedanke, während
ich einzuschlafen versuchte, und stets endete er in dumpfer Panik. Es begann
mit einem verlassenen Strand, alles fühlte sich warm und wunderbar an. In
meinem Traum war ich nackt und aus irgendeinem Grund schwanger, und sanfte
Wellen berührten meine weißen Oberschenkel und dann meinen Bauch, während ich
weiter ins Meer hinauswatete. In meinem Traum war der Himmel immer voller
blauer Möwen und ich nicht imstande, den Blick von einem münzgroßen roten Fleck
abzuwenden, der am Horizont auftauchte und größer wurde. Es sah aus wie ein
Sonnenuntergang, der im Meer
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