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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel
Autoren: Anna Stothard
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und im Café die Kreditkartenschulden abarbeiten können. Ich hätte Lilys
Ehemann bäuchlings dort auf dem Bett liegen lassen und abhauen können, doch
stattdessen hob ich einen von Lilys roten Stilettos auf. Ich wollte die Dinger
haben, obwohl sie komisch an mir [20]  aussehen würden und ich wahrscheinlich nie
im Leben darin gehen konnte. Dann dachte ich, es könnte eigentlich nichts schaden,
wenn ich mir ein paar Kleider nahm, ein paar Schuhe. Vielleicht hätte Lily es
sogar so gewollt.
    Ich ging auf Zehenspitzen zum Schrank rüber, um nach einer Tasche
oder einem Koffer oder irgendwas zu suchen, weil ich außer meinem
vollgekritzelten Schulrucksack nichts dabeihatte. Ohne die Augen von dem Roten
abzuwenden, kniete ich mich hin, um unter das Bett zu fassen, wo Dad und Daphne
zu Hause ihre Koffer aufbewahren. Und wirklich, zwischen alten
Papiertaschentüchern, kaputten Sonnenbrillen und zerknüllten Quittungen zog ich
einen ramponierten roten Koffer hervor. Er maß etwa neunzig mal sechzig
Zentimeter und schien wie aus alter roter Knete gemacht. Ein wenig roch er auch
danach, kreidig und trocken, aber irgendwie tröstlich. Ich fand Papiere und
Ansichtskarten, und in einigen der kleinen Innentaschen steckten Fotos. »Meinem
Liebling Lily«, begann einer der mit Maschine geschriebenen Briefe, doch da
bewegte sich der Rothaarige. Er stöhnte auf dem Bett, und in seinem Mundwinkel
erschienen weißliche Spuckeblasen.
    Hastig fing ich an, Klamotten auf die Briefe im Koffer zu werfen,
wobei ich mich alle zwei Sekunden versicherte, dass der Rothaarige noch immer bewusstlos
war: eine lederne Bikerjacke, eine Jeans, ein purpurrotes Seidenkleid, ein
tailliertes schwarzes, ein weißes Baumwollkleid mit schwarzer Knopfleiste
vorne, vier Tops, einige Sonnenbrillen, ein Paar kleine silberne [21]  Ohrringe in
Tropfenform, ein bisschen Unterwäsche, roten Lippenstift, eine Handtasche aus
beigem Wildleder, zwei Päckchen Zigaretten und ein grünes Plastikfeuerzeug. Ich
nahm das Hochglanz-Taschenbuch vom Nachttisch und sah auf Lilys Mann hinunter.
Die Spitze eines seiner Schlangenlederschuhe baumelte seitlich neben dem Bett,
und sein goldenes Halskettchen war mit den Brusthaaren regelrecht verfilzt.
Früher mochte er einmal gut ausgesehen haben, doch jetzt waren seine Wangen
hohl und die Haut teigig. Mit rasselndem Atem, als hätte er den Mund voller
Sand, stöhnte er noch einmal auf, regte sich aber nicht, und ich wandte mich
ab, um den Kofferdeckel über Röcken, Kleidern, schwarzen Stiefeln, nicht mehr
ganz sauberen roten Stilettos und den grauen Ballerinas zu schließen. In Lilys
Wäscheschublade steckte ein Bündel Zwanzigdollarscheine, die ich schlechten
Gewissens auch noch in meinen Rucksack stopfte.
    Als ich die Kofferschnalle zuschnappen ließ, kam wieder ein Geräusch
vom Bett, und diesmal ging das Rasseln in ein Husten über, das ihn aus der
Umnachtung zu reißen schien. Er richtete sich auf, die Augen noch geschlossen.
Neuerliches Husten, das seine Hemdknöpfe spannte und die Halsadern anschwellen
ließ. Als ich mit Lilys Koffer in der Hand auf die Zimmertür zusteuerte, riss
der Rote die Augen auf und sah mich an.
    »Was zum Teufel…«, brachte er mühsam hervor.
    Statt den Koffer abzustellen, zog ich die Tür mit der freien Hand
hinter mir zu, gerade als der Rothaarige [22]  einen unkoordinierten Satz vom Bett
aus in meine Richtung machte. Die Zimmertür knallte zu, und ich sah nicht noch
einmal nach, ob mit ihm alles in Ordnung war, sondern machte, dass ich wegkam.

[23]  3
    Unter normalen Umständen bin ich ziemlich gut darin, mich
unsichtbar zu machen. Zu Hause in London hat mir mein Freund Laurence
beigebracht, dass man nur dann beim Klauen erfolgreich ist, wenn man es
schafft, seine eigene Persönlichkeit vollkommen auszuschalten und trotzdem
alles um sich herum genau wahrzunehmen. Er war auf Ladendiebstahl
spezialisiert, und manchmal begleitete ich ihn, doch vor Lilys Totenwache hatte
ich eigentlich schon seit Jahren nichts mehr mitgehen lassen. Laurence predigte
gern, dass die meisten der Millionen Gespenster, die in jeder Großstadt der
Welt stumpfsinnig von A nach B gehen, deshalb so unauffällig sind, weil sie
sich selbst nicht wahrnehmen, ein arroganter oder verängstigter Mensch aber
auffällt, weil er sich seiner selbst so bewusst ist. Den gleichen Effekt haben
spitze, hochhackige Schuhe und Push-up- BH s: Sie
zwingen die Frau, sich auf sich selbst zu konzentrieren, und so wird sie auch
für ihre
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