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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel
Autoren: Anna Stothard
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wollte sie gar nicht dort haben. Ich
ertränkte sie in Alkohol, und als ich schließlich auf Richards ranzigem Sofa
einschlief, war ich zu betrunken, um zu träumen.
    Vieles jagt mir Angst ein – Sirenen, Stille, Schlaflosigkeit,
Schlaf. Erinnerungen haben mir nie Angst gemacht, bis zum nächsten Morgen, als
Richard mir die Nummer von Aaron Soto gab, Lilys Anwalt, und wir ihn vom
Telefon im Bungalow aus anriefen. Es war ein strahlend heller Morgen, und mein
Kopf pochte von der Nacht zuvor. Jorge briet Schinkenspeck in der dreckigen
Küche, wo Wasser aus dem Hahn auf einen Stapel fettiger Teller tropfte. Das
durch die Fenster fallende Licht schmerzte in den Augen, und ich kaute auf
einem meiner brüchigen Fingernägel, während ich die Nummer des Anwalts wählte.
Ich riss einen Niednagel ab, und für einen Moment hörte ich auf zu atmen, als
er sagte, der betrunkene Unfallfahrer habe sich vor wenigen Tagen der Polizei
gestellt. Sein Name sei David Reed.

[345]  42
    Ich spähte in einen Hof mit Mosaikpflaster voller Palmen
und Kinderspielzeug. Es war ein Block mit Eigentumswohnungen und Betonfassade
in Long Beach, zehn Minuten vom Flughafen Long Beach und etwa eine Stunde
Autofahrt von Los Angeles entfernt. Alle paar Minuten erfüllte der Lärm
startender oder landender Flugzeuge den wolkenlosen Himmel, und ich könnte
schwören, die Luft roch leicht nach Kerosin. Es war eine breite Vorstadtstraße,
wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt, nur dass die Zäune aus verchromtem
Stahl statt aus gestrichenem Holz und sämtliche Gärten von der Sommerhitze
verbrannt waren. Es gab jede Menge Hintergrundgeräusche – Autos, Flugzeuge und
Kinder –, doch das alles schien eine Million Meilen weit weg zu sein, als ich
mit Lilys Enkidu-Buch auf dem Schoß an der Straßenecke gegenüber des Wohnblocks
saß. Richard hatte es mir geliehen, damit wenigstens ich es auslesen konnte.
Alle zwei Sekunden wanderte mein Blick von der Buchseite zu dem Tor der
Wohnanlage hinüber. Leute kamen heraus. Erst eine Mutter in puscheligen
Hausschuhen, die einen Kinderwagen schob, dann ein Bauarbeiter, der in seinem
Schutzhelm eine Thermosflasche trug. Ich las hundertmal denselben [346]  Satz aus
Lilys Buch, irgendwas darüber, dass Gilgamesch eine Mauer baute, um sein Volk
zu beschützen, konnte mich aber nicht auf die Worte konzentrieren.
    »Hol auch Bananen, für Lucys Abendessen, ja?«, rief jemand von einem
Balkon hinter dem Zaun, und als ich aufschaute, sah ich David in einer grauen
Jogginghose und einem zerknitterten grünen T-Shirt aus dem Tor treten. Er war
zweihundert Meter entfernt, und seine Sachen unterschieden sich kaum von den
Variationen aus Grau und Grün, die die Straße säumten, doch selbst aus einiger
Entfernung fiel mir auf, dass seine Socken nicht zueinanderpassten. Unter dem
Gummizug des einen Hosenbeins blitzte es lila auf, unter dem anderen weiß. Wie
er es nur immer schaffte, sich so nachlässig zu kleiden. Es mochte an seiner
überdurchschnittlichen Größe liegen, doch er war immer ein wenig zerknitterter
als der Durchschnitt. Er schaute zu dem Balkon auf.
    »Klar«, antwortete David der Frau. Er klang heiser und zerstreut.
»Soll ich dir Zigaretten mitbringen?«
    »Hab heute Morgen ein Päckchen geholt«, erwiderte sie. »Schon okay.«
    Ich folgte David in einigem Abstand, als die breite Vorstadtstraße
zu einer belebteren Straße wurde, auf beiden Seiten von Läden und Palmen
flankiert. Er humpelte in seinen großen, abgewetzten Turnschuhen, den Kopf
gesenkt. Die Polizei hatte mir die Adresse von Davids Cousine in Long Beach
gegeben und mir gesagt, er sei auf Kaution frei. Seit ich ihn zuletzt gesehen
hatte, waren erst zehn Tage vergangen, doch es kam mir länger vor. Jorge hatte
mich aus Laguna Town nach Los [347]  Angeles mitgenommen, und seitdem war ich auf
David so wütend wie noch nie auf einen Menschen davor oder danach. Ein Teil
davon war sicher Trauer, doch das Gefühl verursachte mir Magenschmerzen und
ließ meine Haut brennen.
    Als ich ihm jetzt hinterherlief, fragte ich mich, ob er vielleicht
betrunken war, doch selbst nüchtern bewegte er sich in diesem trägen rollenden
Schritt. Ich überlegte, ob das Humpeln eine Folge des Unfalls war. Er humpelte
an einem Schüler, der einen Terrier an der Leine führte, und an einer Stadtstreicherin
und ihrem mit allerlei Habseligkeiten vollgepackten Einkaufswagen vorbei. Die
Straße war auf beiden Seiten von Geschäften gesäumt: Heimwerkerläden, Filialen
von
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